Ararat (#) von Atom Egoyan. Kanada, 2002. David Alpay, Arsinée Khanjian, Charles Aznavour, Christopher Plummer, Bruce Greenwood, Elias Koteas

   Auf solch einen Film hat man eigentlich schon lange gewartet beim Herrn Egoyan, und bei aller Faszination seiner letzten beiden Werke („Das süße Jenseits“ und „Felicia, mein Engel“) kommt „Ararat“ eine gänzlich andere Dimension zu, denn endlich unternimmt er den Versuch, natürlich auf seine eigene Weise, seine armenische Herkunft aufzuarbeiten, vor allem jenes Trauma, das die Armenier seit Generationen begleitet, nämlich den furchtbaren Völkermord durch die Türken im Jahre 1915. Damals wurden über eine Million Menschen unterschiedslos und in einem wahnsinnigen Blutrausch dahingemetzelt, und bis heute sieht sich die Türkei nicht bereit, die Verantwortung für diesen Genozid zu übernehmen. Ein Skandal, der seitdem peinlich totgeschwiegen wurde, auch jetzt immer noch, wo sich die Türken um Akzeptanz und Integration in Westeuropa bemühen.

   Egoyan hat selbstverständlich kein einfaches Historiendrama gedreht, sondern das Thema als Film im Film ausgestellt. Ein Regisseur armenischer Herkunft dreht einen Film über das Massaker, über seine Heimat, erinnert an einen Fotografen von damals und seine Bilder. In diese Dreharbeiten, die von einer Historikerin beratend begleitet werden, mischen sich die unterschiedlichen privaten, familiären Geschichten der Gegenwart, und schon hat man ein komplexes Geflecht aus Themen und Motiven, die zwischen den Zeitebenen wandern, variieren, und jeweils aufgenommen und abgewandelt werden. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, der Identität, der Familie, was an sich schon belastend und schwierig genug wäre, doch hinzu kommen noch allerhand aktuelle Verwicklungen und Konflikte: Die Historikern hat zwei Kinder aus zwei Verbindungen. Diese beiden Kinder haben eine Liebesbeziehung und setzen sich erbittert auseinander über das Schicksal ihrer jeweiligen Väter, denn beide sind tot, und vor allem die Tochter gibt der Mutter die Schuld am Tod ihres Vaters. Der Sohn gerät seinerseits am Zoll in Schwierigkeiten, als er mit versiegelten Filmdosen aus der Türkei zurückkommt und dort als Drogenkurier verdächtigt wird. Sein langes Gespräch mit dem Zollbeamten arbeitet wieder ein Stück Geschichte auf, und der Beamte wiederum ist auch indirekt mit der Filmproduktion verknüpft, denn sein Sohn ist Schauspieler dort, und hier beruht der Familienkonflikt darauf, daß der Sohn seine Ehe aufgegeben und sich zu seiner Homosexualität bekannt hat. Zu guter Letzt haben wir dann noch den Filmregisseur, der sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, die Historie in einem Film zu banalisieren und zu vereinfachen. Für ist dieser Film eine Art Lebenswerk und –bilanz, und er muß erkennen, daß kommerzielle Kompromisse leider nötig sind, um ihn überhaupt machen zu können. Er ist angewiesen auf die Kooperation von vielen Leuten, die seine Erfahrungen, Erinnerungen, Traumata nicht teilen, oder, wie die Historikern, selbst erst auf dem Weg sind dorthin. Das Leben im modernen Kanada ist in jeder Hinsicht sehr weit entfernt vom Leben in der Osttürkei vor fast neunzig Jahren, doch manchmal genügt ein einziges Bild, wie das von der armenischen Mutter mit ihrem Sohn kurz vor dem Massaker, um eine Brücke zu bauen. Probleme mit Identitäten, Emotionen, Toleranz und ähnlichem haben die Leute immer noch, nur spielen sie sich auf anderer Ebene ab.

 

   Es ist sehr beeindruckend, wie brillant es Egoyan gelingt, diese Vielschichtigkeit umzusetzen zu einem flüssigen, sehr eleganten, schönen und gefühlvollen Film, der die Komplexität der verschiedenen Geschichten und Zeitebenen ebenso aufnimmt wie die Oberflächen der einzelnen Erzählungen. Das Hier und Jetzt ist genau so prägnant und intensiv wie die Vergangenheit, die Übergänge sind souverän und gut nachvollziehbar, die Darsteller großartig, der Rhythmus eher langsam und eindringlich, wie meistens bei Egoyan. Wie gesagt, ein Film über seine armenische Herkunft war lange fällig, und vielleicht kann man schon sagen, daß dies bis jetzt sein bester Film geworden ist, auf jeden Fall ein beeindruckendes Erlebnis. (10.4.)