Balzac et la petite tailleuse chinoise (Balzac und die kleine chinesische Schneiderin) von Dai Sijie. Frankreich/China, 2002. Zhou Xun, Chen Kun, Liu Ye

Politische Filme aus China sind notgedrungen rar. Und kritische, ironische, politische Filme muß man wahrlich mit der sprichwörtlichen Lupe suchen. Selbst international anerkannte Leute wie Zhang Yimou oder auch Chen Kaige ziehen sich vorwiegend in sanft satirische Erzählungen vom Lande, Melodramen im Künstlermilieu oder gleich weit weg in die Historie zurück. Aktuelles, gesellschaftskritisches Kino aus dem großen Land gibt es kaum, oder jedenfalls kann es hierzulande nicht rezipiert werden, und dies ist schon ein Grund, weshalb uns dieser schöne Film ein wenig glücklich machen könnte. Zwar wurde er sicherlich weitgehend mit französischem Geld und auch unter dem Schutz der französischem Produktion gedreht, aber er gibt uns immerhin die seltene Gelegenheit, Einblick zu nehmen in ein kleines Stückchen neuerer chinesischer Geschichte, und zwar aus einheimischer Sicht und nicht so, wie wir es in der Schule im Zusammenhang mit den berühmt-berüchtigten Sozialismusmodellen immer lernen mußten.

Eine Geschichte also aus der späteren Phase der furchtbaren Kulturrevolution, als man versuchte, nach der Lehre des großen Vorsitzenden Mao ein ganzes Land zurück in die Steinzeit, sprich in den Stand einfacher Bauern und Grubenarbeiter zu zwingen. Intellektuelle waren Klassenfeinde und Konterrevolutionäre, ausländisches Gedankengut, überhaupt jegliches Gedankengut abseits der kleinen roten Bibel strengstens verboten, und folglich wurden seinerzeit sehr viele Menschen aus den Städten aufs Land zur sogenannten „Umerziehung“ geschickt - jede Diktatur schafft sich ihre eigenen Sprachregelung, die Chinesen taten dies im Besonderen. Zwei Jungs kommen auf diese Weise in die entlegenen Phönixberge, schuften zu ihrem größten Unwillen bei Bauern und in den dortigen Mienen und versuchen, irgendwie einen Hauch weltlichen Gedankenguts in diese vollkommen hermetische und von der Maodoktrin gelähmt und versteinerte Gemeinschaft zu bringen. Der eine spielt Mozart auf der Geige, tarnt die Sonate als Volksleid namens „Mozart hört nur auf den Genossen Mao“, der andere interessiert sich vor allem für die hübsche Enkelin des alten Dorfschneiders. Man sieht sich koreanische Propagandafilme in der nächsten Stadt an und berichtet dann an die fasziniert zuhörenden Dorfbewohner, und allmählich integrieren sich die beiden Jungs, beginnen sich wohl zu fühlen. Noch spannender wird es, als ein Koffer mit verbotener ausländischer Literatur auftaucht. Die beiden holen ihn sich von einem anderen Umerzogenen, verstecken ihn in einer Höhle und lesen fortan der kleinen Schneiderin Balzac, Flaubert oder Dumas vor, öffnen ihr eine ganz neue, große, eindrucksvolle Welt. Die kleine Schneiderin liebt den einen der beiden, wird von ihm schwanger, läßt abtreiben und zieht eines Tages überraschend fort in die Stadt, weil sie von Balzac gelernt hat, daß die Schönheit einer Frau das höchste Gut ist oder so, und weil sie nicht die Absicht hat, all dies auf dem Lande zu erleben, sondern dort, wo sie am ehesten Erfahrungen machen kann. Zwanzig Jahre später kommt einer der beiden Männer noch mal in das Dorf, das nun kurz vor dem Untergang steht, denn es wird wie viele andere dem Prestigeprojekt des Yangste-Stausees geopfert. Er geht noch einmal auf Spurensuche, doch die kleine Schneiderin kann er nicht mehr finden, ebensowenig wie sein Freund, den er in Shanghai besucht und mit dem er sich gemeinsam an die Zeit von einst erinnert.

Zunächst ist der Film schon mal sehr gefühlvoll und schön. Er balanciert problemlos zwischen leichten, typisch französisch geprägten Momenten und melancholischen, ernsteren Szenen. Es geht auch um die Liebesgeschichte, um die Konkurrenz der beiden Jungs um das Mädchen, es geht um die Rolle, die die kleine Schneidern als Mädchen in einer stark konservativ und traditionell geformten Gesellschaft innehat, es geht um die Situation der Städter, die aufs Land kommen in eine total fremde Umgebung, wo sie sich nun auf das Gardemaß des revolutionären chinesischen Bauern zurechtstutzen lassen müssen und es geht um ihre diversen Initiativen, mit denen sie sich zumindest ein wenig aus dieser starren, von völliger ideologischer Verblendung gekennzeichneten Ordnung lösen können. Hierzu ist die Kunst der Schlüssel, das Geistige, die Möglichkeit, sich wenigstens innerlich zu befreien von den terroristischen Zwängen des chinesischen Kommunismus’, von dem unentwegten Geblöke aus den Lautsprechern, von dem unreflektiert und dumm nachgeplapperten Maozeug aus dem Mund des Chefbrigadiers und seiner Gefolgsleute. Ob es nun Balzac und der ganze französische Kanon ist oder irgendetwas anderes, es kommt allein darauf an, daß man überhaupt den Zugriff hat und daß man den Mut hat, entgegen der Verbote und der allgegenwärtigen Überwachung und Schnüffelei etwas für den eigene Geist zu tun, denn nur so, dies sagt der Film in aller Deutlichkeit, kann man sich entwickeln, sich verändern, offen und lernfähig und kritisch bleiben. Das ist eine sehr starke und grundsätzliche Aussage, und sie in einem chinesischen Film zu hören ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit.

 

Der Regisseur Dai Sijie hat sein eigenes Buch verfilmt, möglicherweise sogar seine eigene Geschichte, und wie er den Film inszeniert hat, spürt man sofort, daß es eine Herzensangelegenheit ist. Die sehr gut geführten Schauspieler, die zärtliche Liebesgeschichte, die frech satirischen Szenen, die eindeutige Liebeserklärung an das Land, das einst unter dem diktatorischen Kommunismus à la Mao litt und nun unter dem großkotzigen Fortschrittswahn des aktuellen Regimes, der eine ganze, bezaubernd schöne Landschaft buchstäblich hinwegschwemmt, die dort lebenden Einheimischen entwurzelt, nach wie vor ohne jede Rücksicht auf die einzelnen Menschen, immer mit strammem Blick auf das eigene Wohl. All dies zeugt von sehr viel persönlichem Engagement und wird im Film sehr eindringlich und stark zum Ausdruck gebracht, nie jedoch betont zornig oder hart, sondern immer eingekleidet in die bittersüße Erinnerung des einen Mannes, der nun als Geiger in Paris lebt. Also eine Sache zum Genießen, sowohl für das Auge, die Ohren als auch für’s Hirn, und wer weiß, vielleicht fühl sich so mancher doch ermutigt, mal wieder ein Büchlein zur Hand zu nehmen. (5.1.)