Before Sunset (#) von Richard Linklater. USA, 2003. Julie Delpy, Ethan Hawke

   Neun Jahre ist es her, da trafen sich in einem Zug in Europa die Französin Céline und der Amerikaner Jesse. Sie stiegen in Wien aus, ließen sich einen Tag und eine Nacht lang durch die Stadt treiben, schliefen dann auch miteinander, mußten sich aber am nächsten Morgen trennen; nicht ohne sich für sechs Monate später wieder in Wien zu verabreden. Es dauert aber nicht ein halbes Jahr, sondern ganze neun Jahre, bis sie sich schließlich wiedersehen, und das passiert auch nicht in Wien, sondern in Paris, wo Jessie als Schriftsteller eine Lesung bei Shakespeare & Co. hat und Céline plötzlich da steht. Knappe neunzig Minuten bleiben den beiden, bis der Flieger zurück in die Staaten geht, neunzig Minuten, um neun Jahre nachzuholen und sich vor allem zu der einen entscheidenden Frage vorzuarbeiten: Lieben sie sich noch, haben sie eine gemeinsame Zukunft, würde Jessie gar Frau und Kind in New York zurücklassen?

   Ein zweites Mal also verfolgen wir diese beiden auf den Wegen durch eine Stadt: Ein Café, ein paar Straßen, ein Park, ein Touristenboot auf der Seine, Jessies Mietwagen, der ihn eigentlich zum Flughafen bringen soll, und schließlich Célines Wohnung. Und wie beim ersten Zusammentreffen entwickelt sich das Gespräch, beginnt eher allgemein, mit Politik, Kunst und eher oberflächlichen Themen, um dann ganz langsam zum inneren, eigentlichen und von uns Zuschauern vor allem längst herbeigefieberten Kern vorzudringen: Wie sieht es mit ihren Gefühlen aus? War das damals nur eine folgenlose Episode, oder ist doch etwas geblieben, etwas, das sich eventuell sogar wieder beleben ließe? Wie Linklater und seine beiden Schauspieler das gemacht haben, ist schon große Klasse, ein Meisterstück der Dramaturgie, die sich nur aus einer Situation heraus entwickelt, die nicht mehr braucht als zwei Leute, die sich unterhalten. Sie landen dann doch in Célines Wohnung, weil dann im Wagen aus beiden plötzlich sehr viele Emotionen herausgebrochen sind und Jessie sich nicht einfach wieder trennen mag. Sie singt einen ihrer Songs, sie hören Nina Simone, man flirtet und albert ein bißchen, sie sagt „Du verpaßt deinen Flieger“, er nickt und lacht und dann ist der Film auf einmal zu jedermanns Verblüffung vorbei. Ein Ende also, das geradezu, fast auf ironische Weise, nach einer Fortsetzung schreit.

   Es ist schon aus Prinzip eine große Befriedigung, solch einen Film zu sehen, denn er demonstriert eindrucksvoll und sehr nachdrücklich, daß all die wahnwitzigen Materialschlachten, die heutzutage Hunderte von Millionen verschlingen, durchaus nichts mit gutem Kino zu tun haben, wenn ihnen die Seele fehlt. Linklater erinnert einmal mehr an Eric Rohmer und dessen Konzept, nach dem sich die Leute über wer weiß was unterhalten können und es dennoch interessant ist, weil sie ihre Gespräche mit Witz und Leben erfüllen. Die besten Rohmer-Filme sind deshalb ein Triumph über all die aufgeblasenen, hohlen, seelisch toten Big-Budget-Produkte, die uns Hollywood Jahr für Jahr in Unmengen hinwirft, und auch dieser Film ist ein solcher Triumph. Selbst wenn man den Vorgänger nicht gesehen hat, ist man sehr schnell in der Situation orientiert, zumal Linklater ein paar kurze Schlaglichter von damals einstreut, allein um uns daran zu erinnern, wie die beiden mit Anfang Zwanzig aussahen. Und schnell wird klar, daß sie damals die Verabredung nicht einhalten konnte, er aber sehr wohl in Wien war und auch in den Jahren danach diesen einen Tag mit ihr nicht vergessen hat. Es dauert schon etwas länger, bis die beiden mehr von sich preisgeben, aber besonders diese Momente sind sehr intensiv und gefühlvoll, weil ja zum einen der Zeitdruck immer im Hintergrund ist und man als Zuschauer sehnlich darauf wartet, daß sich die beiden endlich das sagen, was sie sich eigentlich sagen sollten, und weil sowohl Célines als auch Jessies Gefühlsausbrüche außerordentlich wahrhaftig sind. In Jessies Erzählung über seine Ehe und wie sie nach der Geburt des Sohnes schön langsam aber sicher in Routine und Lieblosigkeit versandet ist, können bestimmt 50% aller Leute in längeren Ehen oder Beziehungen unterschreiben (und auch die tiefe Bitterkeit und Enttäuschung, die in seinen Worten mitschwingt), und Célines anfangs muntere und lockere Berichte über ihr Dasein als Single mit verschiedenen kürzeren oder längeren Affären entpuppen sich alsbald als Bilanz einer Art von Einsamkeit. Wie damals ist auch jetzt Jessie der etwas offensivere und ehrlichere der beiden, er macht die deutlichsten Annäherungsversuche, spielt als erster mit dem Thema Sex herum, gibt als erster zu, daß er sie nicht vergessen hat und noch immer von ihr träumt. Bei ihr dauert das ein bißchen länger, aber da auch sie schließlich mehr von ihren Gefühlen für ihn preisgibt, kann man vielleicht erwarten, daß ihr Wiedersehen doch weitreichende Folgen haben wird.

   Genau bis zu diesem Punkt baut sich eine große und zuletzt auch sehr erotische Spannung zwischen den beiden auf, und Delpy und Hawke spielen das ganz toll. Wieder dieses Aufeinanderzugehen, Miteinanderwarmwerden, dieses langsame Herantasten, nur daß diesmal ja schon eine Basis gelegt wurde und sie in einigen Punkten an ihr erstes Treffen anknüpfen können. Beide Darsteller sind sichtlich gealtert und haben wesentlich an Ausdrucksstärke und Kontur gewonnen, sind etwas kantiger geworden und ihren Gesichtern sind ihre Lebenserfahrungen gut anzusehen. Sie bringen sich hier ganz ein, entwickeln ihre Gespräche, ihre Beziehung gemeinsam und schaffen damit eine Intimität, die man so nur selten im Film sieht. Und wie einst die französischen Regisseure der Nouvelle Vague baut Linklater die Plätze und Straßen von Paris sehr schön als Hintergrund für diese Begegnung ein, das besondere Licht, die besondere sommerliche Atmosphäre, die man sehr intensiv spürt, und man weiß, daß Paris noch immer eine Stadt der Filmemacher ist.

 

   Der erste Film vor neun Jahren war schon eine schöne Sache, aber der hier ist noch viel schöner, und ich hoffe doch, daß uns die drei irgendwann eine Fortsetzung gönnen. Denn so können sie uns einfach nicht in der Luft hängen lassen. (30.6.)