Diarios de motocicleta (Die Reise des jungen Che) von Walter Salles. Argentinien/USA/BRD, 2004. Gael García Bernal, Rodrigo de la Serna, Mía Maestro, Mercedes Morán, Jorge Chiarella, Susana Lanteri

   Buenos Aires 1952: Zwei Männer packen ein wuchtiges Motorrad Baujahr ’39 mit Gepäck voll, verabschieden sich wort- und tränenreich von ihren Lieben daheim und dann geht’s los auf eine mehrmonatige Erkundung des südamerikanischen Kontinents, sechstausend Kilometer lang. In einer Schleife durch Argentinien, rüber nach Chile, hoch nach Peru und dann auf dem Amazonas und über Kolumbien nach Venezuela, von wo aus sie ein Flugzeug zurück nach Hause nehmen wollen. Der eine ist ein junger Kerl von 23, noch nicht ganz fertig studierter Mediziner, ein braver Knabe aus gutbürgerlichem Haus. Der andere will am Ende der Reise seinen dreißigsten Geburtstag feiern, ein Biochemiker, ein unternehmungslustiger Lebemann, der gern Land und Leute, und von letzterem bevorzugt die weibliche Hälfte erforschen möchte. Der eine heißt Ernesto Guevara, der andere Alberto Granado. Beide werden ein Tagebuch ihrer Reise anfertigen, und beide Tagebücher dienten als Grundlage dieses Films, mit dem Walter Salles nach „Central do Brasil“ vor sieben Jahren seine offensichtliche Vorliebe für sogenannte Road Movies wiederbelebt, und dies ganz eindeutig zu jedermanns größtem Gewinn.

   Zunächst ist allein die Ausgangssituation toll, und wer hätte nicht schon mal einen ähnlichen Traum geträumt? Man schnappt sich ein Gefährt, schnappt sich seinen besten Kumpel und zieht los, einfach ins Blaue, quer durchs Land mit wenig Geld, sehr viel Zeit und noch mehr Neugier. Dieses Gefühl, die Sehnsucht nach Freiheit und neuen Horizonten, wird in den ersten zehn, zwanzig Minuten so wunderbar vermittelt, daß man selbst im Hier und Jetzt, das ja nun alles andere als abenteuerlich ist, auf einer kleinen Woge der Euphorie mit den Bildern davongetragen wird. Natürlich weicht diese Euphorie alsbald anderen, weitaus differenzierteren und komplexeren Empfindungen, zum einen durch die beträchtlichen körperlichen Strapazen, das dauernd streikende Motorrad, die Ahnung von der ungeheuren Größe des Kontinents und diverse Widrigkeiten auf der abendliche Suche nach einem Schlafplatz, und zum anderen durch das, was die beiden auf ihrer Reise sehen, erleben, lernen. Ein gutes Road Movie ist immer ein Film über Land und Leute, und bei Bedarf kann das dann sogar richtig politisch werden, und wenn es darum geht, wie der spätere Che Guevara zu seinem Weltbild gekommen ist, muß es natürlich zwangsläufig politisch werden. Die beiden reisen über Land und durch Städte, durch Schnee und Wüste, sie sehen Valparaíso, Cuzco und den Amazonas, die endlosen Pampas, verschlafene Bauerndörfer und eine einzige Luxusunterkunft, wo sie Ernestos Freundin besuchen. Aber ansonsten geht es um die einfachen Leute, Marktfrauen, Mechaniker, Tanzkapellen auf dem Dorf, Einsiedler weit draußen in der Wildnis, die Nachfahren der Indios in den alten Städten, übel unterjochten Minenarbeiter und aussätzigen Leprakranken auf einer Insel im Amazonas. Diese beiden letzten Stationen sind es vor allen anderen, die Ernesto nachhaltig prägen, ihm einerseits ein ganz neues Gefühl für die Identität dieses problematischen, zerrissenen, seit Jahrhunderten unterjochten, ausgeplünderten, kolonialisierten Kontinents, für die Menschen, die dort wohnen und für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihr Leben prägen. Seine Solidarisierung mit den Rechtlosen und Ausgegrenzten findet ganz intuitiv statt, er ist kein theoretisierender Intellektueller, sondern eher ein unerfahrener, politisch wenig vorgebildeter Mann, der sich nun sensibel und spontan den Menschen nähert, offen und neugierig für dieses ganz andere Leben, und während sich Alberto im Grunde wenig beeindruckt zeigt und eher an seinen Spaß denkt, entwickelt Ernesto schrittweise soziales Bewußtsein und den Willen, daraus auch die Konsequenzen zu ziehen. Man weiß ja allgemein, was aus ihm geworden ist, (und Salles selbst informiert darüber nur sehr dünn im Nachspann) und auch ohne diese weitere Geschichte irgendwie auszuwalzen, ist absolut klar, daß Ernesto nach der Reise nicht mehr das gleiche Leben leben wird wie vorher. Road Movies können eben auch Initiationsgeschichten sein, und dies hier ist auf jeden Fall eine.

 

  Der Film hat von Beginn an einen wunderbaren Fluß, in den man sich zwei Stunden lang restlos versenken kann, er bietet prachtvolles, emotionales, humorvolles, vitales Kino randvoll mit atemberaubenden Bildern von atemberaubenden  südamerikanischen Landschaften – schon darin liegt eine große Liebeserklärung an den Kontinent – und er besitzt die unschätzbare Kunst, genau das, was wichtig ist, pointiert herauszuheben, ohne dazu große Ausrufezeichen setzen zu müssen. Allein der Aufenthalt auf der Leprastation erscheint proportional ein wenig übergewichtig, was aber sicherlich auch darin begründet ist, daß Ernesto hier endgültig seine zukünftigen Neigungen und Ansichten formt, sich ultimativ auf die Seite der Armen und Rechtlosen stellt. Als eindrucksvolles Bild dafür schwimmt er einmal durch den Amazonas rüber zu ihnen, ohnehin chronisch geschwächt durch Asthma, und hier am Ende seiner Kräfte, aber schon entschlossen, die eigenen Grenzen für die Sache zu überwinden. Am Schluß erlebte ich das Ende dieser Reise durchaus mit Bedauern, so sehr sind mir die beiden Reisenden ans Herz gewachsen, so spannend und faszinierend waren ihre Erlebnisse, Begegnungen, Eindrücke und Lernprozesse. Zudem sind Gael García Bernal und Rodrigo de la Serna in ihren Rollen einfach großartig und tragen neben der ausgezeichneten Regie maßgeblich dazu bei, daß dies mal wieder tolles, beeindruckendes Kino aus Südamerika geworden ist, von wo ja gottseidank noch immer mal solch ein Lebenszeichen kommt. (10.11.)