Hierankl von Hans Steinbichler. BRD, 2003. Johanna Wokalek, Barbara Sukowa, Josef Bierbichler, Peter Simonischek, Frank Giering, Alexander Beyer
Im Chiemgau geht’s dieser Tage auch nicht mehr zu wie zu Altvaters Zeiten. Da kommt die Tochter des Hauses nach dreijähriger Abwesenheit aus dem fernen Berlin nach Haus in die Berge, eigentlich auch nur, um Papas sechzigsten Geburtstag mit der ganzen Familie zu feiern, und unversehens wird sie hineingezogen in einen Strudel der Emotionen und der Aufarbeitung von Altlasten. Mama und Papa haben sich längst auseinandergelebt, haben beide Liebhaber/innen, granteln einander nur noch an, der Bruder ist irgendwie ein diffuser Leichtfuß, seiner Schwester in innigster Zuneigung verbunden, aber wenn’s darauf ankommt auch keine große Hilfe. Man ahnt, daß speziell das Mutter-Tochter-Verhältnis (na klar!) dringend der Klärung und Revision bedarf, doch die Mamas gibt sich spröde und verbittert, während sich die Tochter mit bösen Erinnerungen aus der Kinderzeit herumplagt. Gänzlich schwierig wird es aber erst, als ein alter Studierfreund der Eltern zur Familie stößt. Die Tochter fühlt sich sogleich zu ihm hingezogen, macht rasch eine körperliche Sache daraus, erlebt aber einen herben Dämpfer, als die Mama ihr beim Festmahl eröffnet, daß just jener Herr ihr leiblicher Vater sei und sie das Resultat einer geheimgehaltenen Affäre. Am Schluß jagt der erzürnte Papa den verräterischen Freund vom Hofe, während die hoffnungslos verwirrte Tochter heulend auf dem Acker liegt. So sieht’s also heutzutage im Chiemgau aus!
Drei Fragen stellt sich die Tochter, als sie sich im Münchner Hauptbahnhof für den einen oder den anderen Zug entscheidet: Hast du Sex, hast du Familie, bist du in Bewegung. Aus irgendeinem Grund hängt von der Beantwortung dieser Fragen offenbar das moderne Lebensglück ab, und böse Zungen könnten konstatieren, daß die Antworten der Tochter nach Ablauf der Geschichte deutlich positiver ausfallen als vorher: Sex hatte sie immerhin (ist ja egal, mit wem), Familie hat sie auch (ist ja egal, wie die aussieht) und Bewegung, na ja, die hat man irgendwie immer. Also: das Paradies. Paradiesisch an dieser Geschichte sind aber nur die Bilder, die tatsächlich spektakulär schön sind, erst recht für einen deutschen Film, und zweifellos eine der beiden großen Qualitäten des Films ausmachen. Die andere ist in den Schauspielern zu suchen, denen es schon gelingt, Intensität, Ausdruckskraft und eine Art von Glaubwürdigkeit zu erzeugen, auch wenn das Drehbuch es ihnen nicht immer sehr leicht macht. Jenes kann sicherlich nicht zu den Pluspunkten hier gerechnet werden, denn was uns hier an Verstrickungen und schicksalhaften Ereignissen vorgesetzt wird, strapaziert unsere Toleranz gelegentlich über Gebühr. Gerade der ahnungslose Inzest von Tochter und Studienfreund setzt dem ganzen einfach eine Bürde zuviel auf, wo die bereits angesprochenen Konflikte genug gewesen wären für ein zünftiges Familiendrama. Auch die ständige Gegenwart des Hausfreunds der Mama irritiert, oder zumindest die Tatsache, daß ein Pascha alter Schule wie der Papa den dreisten Kerl in seinem Haus überhaupt toleriert. Anspielungen an die 68er Vergangenheit der beiden deutet vielleicht auf einen grundsätzlich offeneren, unkonventionelleren Lebensentwurf hin, aber daß es gleich so weit gehen muß, habe ich jedenfalls als wenig glaubwürdig empfunden. Also alles ein wenig zu dick aufgetragen, zu überzogen, zu viel für einen einzelnen kleinen Film, und das ist hier mal wieder schade angesichts der großen optischen und schauspielerischen Attraktivität. Ob man so das Genre des Heimatfilms neu beleben kann, weiß ich nicht. (27.1.)