Io non ho paura (Ich habe keine Angst) von Gabriele Salvatores. Italien/Spanien/England, 2002. Guiseppe Cristiano, Mattia di Pierro, Aitana Sánchez-Gijón, Diego Abantatuono

Das Gute ist: Man muß ja gar nicht bis über den Teich gehen, um diese großen, weiten Landschaftsbilder zu bekommen. Süditalien reicht auch, Apulien, um genauer zu sein, denn dort trägt sich diese Geschichte zu, die Geschichte des zehnjährigen Michele, der in einem gewaltig heißen Sommer irgendwann in den Siebzigern einen Jungen in einem dunklen Erdloch, einem Versteck, entdeckt, und später dann feststellt, daß dieser Junge entführt und dort festgehalten wird, und noch später feststellt, daß sein eigener Vater unter den Entführern ist. Er beschließt, den Jungen, der so alt ist wie er selbst, zu befreien, gerät dabei in größte Gefahr, doch zum Schluß kommt es doch nicht zum Schlimmsten.

Wichtiger noch als die Geschichte selbst, die, so hatte ich jedenfalls streckenweise den Eindruck, noch nicht einmal mit letzter Tiefe und Entschlossenheit entwickelt wird, ist eindeutig ihre Umsetzung, und die ist wirklich bemerkenswert. Selten jedenfalls habe ich Filme gesehen, die so wie dieser das Prädikat „sinnlich“ verdienen, und dies dabei in der wörtlichsten Bedeutung verstanden wissen wollen. Sinnlich heißt in diesem Falle die Sinne berührend, und das tut der Film auf außerordentliche Weise. Die immer wieder genußvoll ausgebreiteten Tableaus einer hügeligen, von gelb wogenden Kornfeldern bedeckten Bauernlandschaft, das endlose Blau, das intensive Licht des südlichen Sommerhimmels, die ewige Hitze, die die Leute selbst nachts noch heimsucht und am Schlafen hindert, das unentwegte Zirpen der Grillen oder Zikaden oder was weiß ich, die ab und zu kreisenden Raubvögel mit ihren Rufen, die Stimmung eines heraufziehenden Gewitters, die ersten schwer klatschenden Regentropfen, all dies wird so greifbar, so direkt fühlbar, daß man sich hineingesogen fühlt in den Sommer des Mezzogiorno, auf die staubigen Feldwege, mitten ins trocken raschelnde Korn oder abends in die Wärme der offenen Häuser des kleinen Dorfes. Man beobachtet Michele, seine Schwester und ihre Freunde beim täglichen Spiel, man beobachtet die Familien beim Essen, bei dem, was sie halt jeden Tag so tun, und man erlebt, wie diese Alltäglichkeit für Michele jäh gebrochen wird, als er den verängstigten, von der langen Dunkelheit fast blinden und sehr verwahrlosten Jungen findet und sich zu fragen beginnt, wie und weshalb er dorthin gekommen ist. Langsam wird ihm klar, daß die etwas zwielichtigen Freunde seines Vaters hinter der Sache stecken, und zu seiner tiefen Enttäuschung muß er auch noch erfahren, daß sein Vater selbst beteiligt ist. Ein neuer Fernseher ist die Attraktion im Elternhaus, und via TV sendet die Mutter des entführten Jungen aus Mailand (also dem reichen Norden) einen Appell an die Entführer, das Kind unversehrt zu lassen. Michele freundet sich mit ihm an, läßt ihn stundenweise aus seinem Gefängnis hinaus ans Licht, und all dies sind bei ihm ganz selbstverständliche, weniger überlegte als mehr dem Gefühl entspringende Handlungen. Er weiß genau, daß es gefährlich ist, daß er, wenn die Gauner ihn entdecken, eine Menge Ärger zu erwarten hat, und am Schluß wird er sogar vom eigenen Vater irrtümlich angeschossen, dennoch kann er nicht anders, zieht es ihn immer wieder zur alten Hausruine auf dem Hügel und dem Versteck in der Erde hin. Dahinter steckt nicht nur Sympathie für den abgemagerten und verstörten Jungen, der, blond und hellhäutig, aus einer ganz anderen Welt zu stammen scheint, es steckt auch viel Neugier dahinter, der Versuch, auf diese Weise mehr zu lernen, mehr zu erfahren, mehr zu verstehen, auch von dem, was die Erwachsenen so tun, wenn sie die Kinder wegschicken nach draußen oder in die Zimmer, wenn sie dann hinter nur angelehnten Türen zu diskutieren anfangen, und damit natürlich erst recht die Neugier der Kinder wecken. Michele ist sich über den ganzen Sachverhalt mit der Entführung und der damit verbundenen Erpressung nicht einmal sehr im klaren, er sieht nur, daß da dieser Junge in Bedrängnis ist, daß ihm Unrecht geschieht.

 

Salvatores läßt sich sehr konsequent nur auf die Perspektive Micheles ein, alles was geschieht, wird durch seine Wahrnehmung, seine Empfindungen, seine Sichtweise geprägt, vor allem auch seine Eltern und die anderen Erwachsenen im Dorf, die sehr häufig eine Sprache sprechen, in der die Dinge nicht das meinen, was er aus ihnen hört. Die Welt der Kinderspiele draußen in den Feldern und auf den Hügeln ist eine Sache, die Welt der Erwachsenen mit den Sitzungen hinter verschlossenen Türen, den unverständlich heftigen Gefühlsdausbrüchen eine andere, und zwischen den beiden Welten sieht sich Michele urplötzlich geteilt, in vielen natürlich noch ein Kind, doch durch die Begegnung mit dem Jungen doch schon ein Teil der anderen, der erwachsenen Welt. Nur den besten Filmen dieses Genres, zumeist den skandinavischen also, gelingt die Darstellung dieser Zerrissenheit ähnlich intensiv und nachfühlbar wie diesem hier, und auch dieser stützt sich auf sehr gute Darsteller und auf eine besonders einfühlsame und bedachtsame Regie, die nur ganz selten mal auf einen spannenden Effekt setzen muß und sich sonst auf die Magie der Bilder im Zusammenspiel mit der hymnisch schönen Musik und die großartige Intensität der Atmosphäre verlassen kann. Ein wahres Fest für die Sinne also, und hierfür laß ich jeden noch so tollen Western sausen, garantiert. (18.2.)