Forbrydelser (In deinen Händen) von Annette K. Olesen. Dänemark, 2003. Ann Eleonora Jørgensen, Trine Dyrholm, Nikolaj Kopernikus, Sonja Richter
Dogma 95 hat wieder zugeschlagen, uns einen weiteren großartigen Film beschert, und wie meistens handelt es sich nicht gerade um leichte Kost. Zwei Jahre nach dem ebenfalls bereits hervorragenden „Kleine Mißgeschicke“ hat Frau Olesen die Schicksalsschraube nun noch um einige Umdrehungen festgezurrt und es dennoch wundersamerweise fertig gebracht, daß man den Saal nicht bereits nach einer Stunde verläßt oder hinterher mit hängenden Schultern von dannen schleicht. Dies ist eine Kunst, die die alten Dänen wie niemand sonst beherrschen und die solche Filme immer wieder davor bewahrt, unerträglich und bleischwer auf uns zu lasten.
Anlaß gäb’s weiß Gott genug:
Anna, eine unerfahrene frischgekürte Theologin wird als Ersatz für ihren erkrankten Kollegen in einem Frauengefängnis eingesetzt. Sie wird dort sowieso auf eine harte Probe gestellt, aber richtig schlimm kommt es für sie erst, als sie erfährt, daß sie schwanger ist, womit sie niemals mehr gerechnet hätte, der Embryo aber einen Chromosomenfehler aufweist und nun die Entscheidung ansteht, ob abgetrieben oder ausgetragen werden soll. Ihr Freund läßt sie mit ihrer Not allein, entscheidet dann in Gegenwart des Arztes von sich aus für Abtreibung, bevor sie mit sich im reinen ist.
Im Gefängnis wird eine Frau eingeliefert, Kate, die unter Drogen ihr kleines Kind verdursten ließ. Sie gibt sich sehr still, und ist unter ihren Mithäftlingen umstritten - die anderen sagen ihr heilende Kräfte nach, und verehren sie fast wie eine Heilige, die anderen befürchten, daß sie sich in die internen Drogengeschäfte einmischen könnte und bedrohen sie. Als Anna sie in ihrer Verzweiflung um Hilfe bittet, kommt es zur einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf die anderen Insassen erfahren, weshalb Kate im Gefängnis ist, was unter keinen Umständen hätte passieren dürfen. Fortan wird sie von allen geschnitten und begeht Selbstmord mit einer Überdosis Heroin.
Ein junger Aufseher hat sich zuvor in Kate verliebt, weiß aber auch, daß die Regeln einen Kontakt zwischen Personal und Häftlingen strikt untersagen. Auch unter den Kollegen spielen Eifersucht und diskretes Mobbing eine Rolle, so daß er schließlich seine Betreuung abgibt und sich von Kate zurückzieht. Als er von ihrem Tod erfährt, geht er dennoch in ohnmächtiger Wut auf Anna los.
Am Schluß sehen wir eine völlig betäubte Anna, die von ihrem Freund im Krankenhaus empfangen wird, wo die Abtreibung stattfinden soll. Sie weiß, daß der lebende Fötus durch eine Gebärmutterkontraktion erstickt wird und alles in ihr scheint sich dagegen zu wehren. Dennoch folgt sie ihm kraftlos und sagt, „Bringen wir’s hinter uns.“
Es gehören wie gesagt besondere Fähigkeiten dazu, um solch ein Drehbuch nicht in Kitsch, Pathos, Klischees und Unglaubwürdigkeit zu versenken, und Olesen und ihre fantastischen Darsteller verfügen über genau diese Fähigkeiten. Sie spielen ihre Dramen unerbittlich bis zum Schluß, schonen nichts und niemanden, vermeiden aber gleichzeitig jegliche Aufdringlichkeit, jegliche Moralattacke auf die Zuschauer. Die spezielle Dogmatechnik leistet hier immer noch entscheidend Vorschub, sie ermöglicht, fordert regelrecht einen nüchternen, gleichzeitig nahen und intimen Blickwinkel, verbietet dramaturgische Gefühlsverstärker wie Musik (was hier leicht sehr fatal hätte werden können), bleibt ganz bei den Menschen, enorm konzentriert und jeglichen Brimboriums enthoben. Diese Filme wirken völlig kunstlos und ungekünstelt, und erst nach einer Weile erkennt man, wie schwierig es vor allem für die Schauspieler ist, unter solchen Umständen zu agieren, denn es gibt hier keine Rettungsnische, keinen doppelten Boden, nur vollen Einsatz und größtmöglichen Realismus. Was die Schauspieler in Filmen wie diesem leisten, ist einfach grandios und nicht hoch genug zu bewerten.
Auch sonst beeindruckt Olesens Film durch den konsequenten Weg, den er beschreitet und seinen ebenso konsequenten Humanismus. Immer wieder zeigen solche Filme Menschen in tiefen Krisen, in großen Irrtümern, in ausweglosen Situationen, und niemals geht es um Verurteilungen, um einseitige Wertungen oder gar moralische Statements, und auch wenn einige Situationen für uns Zuschauer durchaus schwer zu ertragen sind, fühlen wir uns niemals versucht, für oder gegen den einen oder anderen grundsätzlich Stellung zu beziehen. Eine weitere Kunst lieg darin, solch existentielle Dinge wie Leben und Tod, Vertrauen, Eifersucht, Glauben und Zweifel und jegliche Form zwischenmenschlicher Beziehungen so miteinander zu verbinden, daß dennoch eine organische Einheit daraus wird und nicht ein heillos überfrachtetes Psychodrama. Ich kann für mich immer nur wiederholen, wie wichtig ich diese Filme finde, den hier genau wie die anderen, und wie froh ich bei allen theoretischen Vorbehalten gegen den Dogmatismus bin, daß es diese Initiative gibt, denn wieviel Meisterwerke hat sie uns nun schon beschert! (13.10.)