Kroko von Sylke Enders. BRD, 2003. Franziska Jünger, Alexander Lange, Hinnerk Schönemann

   Nach einer etwas längeren Wartezeit ist dies endlich mal wieder so ein richtig toller Milieufilm aus teutschen Landen, und zwar ohne die pseudokabarettistischen Mätzchen à la „Herr Lehmann“ und ohne das Pathos Fatih Akins. Nichts wird unnötig dramatisiert, nichts stilisiert, es geht auch nicht um eine wer weiß wie große Story, sondern eher um ein paar Leute in Berlin, wie und wo sie miteinander leben, welche Aussichten sie unter den gegebenen Umständen haben, was sie erfahren und lernen und was sie möglicherweise verändern könnte.

   Kroko ist die coolste Ghettomieze in ihrer Clique, mit absolut null Bock auf gar nichts und einem derart provozierenden Leck-mich-am-Arsch-Gesicht, daß absolut nichts zu ihr durchdringt und sich ihre Umwelt ganz umsonst abarbeiten würde. Ihre Mama erzieht allein, sieht auch nicht gerade sonderlich stabil aus und hat anscheinend öfter schon mit der Jugendfürsorge zu tun gehabt. Ihr Lover ist einer von der harten Sorte, dem auch mal die Hand ausrutscht, und ansonsten hängt man im Viertel rum zwischen Plattenbau und Disco, klaut sich den täglichen Bedarf an Modeaccessoires im Kaufhaus zusammen, stellt täglich die Hackordnung in der Gruppe klar und bemüht sich, so was wie Spaß zu haben. Einmal mitten im Spaßhaben nimmt Kroko einen Radfahrer auf die Kühlerhaube und landet dafür vor Gericht. Sie wird zu sechzig (oder so) Stunden Sozialdienst in einer Behinderteneinrichtung verdonnert, und dort prallen dann natürlich zwei Welten aufeinander. Micha der Sozialarbeiter ist ganz das klassische Klischee seiner Zunft, mit Bart und Geduld und immer drüber Reden undsoweiter und ganz seinem Beruf verpflichtet, während Kroko für die Spastis und den ganzem Kram anfangs nur Verachtung und unendliche Langeweile empfindet und nicht im Traum daran denkt, einen Finger zu rühren geschweige denn, sich in irgendeiner Form zu engagieren oder sich für irgendwas verantwortlich zu fühlen. Doch ganz allmählich kommt in ihrem Fühlen und Denken dann doch etwas in Bewegung.

  Wenn der Film vorüber ist, befindet sich Kroko noch mitten in der Bewegung, es ist nichts abgeschlossen und es kann noch immer sein, daß sie wieder ganz in alte Muster fällt, aber man spürt doch, daß sich ihre harte, sehr abweisende     und schroffe Fassade ein wenig erweicht hat, daß sie plötzlich doch so etwas wie Zuneigung für die Behinderten empfindet und auch in der Familie nicht mehr nur auf Konfrontation oder Abblocken gepolt ist. Sie besucht aus freien Stücken eine Theateraufführung der Gruppe, geht mit ihr zum Rummel und scheint auf ihre Weise doch eine gewisse Zugehörigkeit entwickelt zu haben, obwohl sie das nicht wirklich zugeben würde. Ihre Toughness ist gewachsen im Ghetto, klar, und ein Stück weit überlebenswichtig, und gänzlich ablegen wird sie diese Attitüde nie, aber nun traut sie sich doch, Gefühle zu zeigen, Angst und Panik beispielsweise, als einer aus der Gruppe einen Anfall hat, und das würde der Kodex ihrer Clique sonst nicht zulassen.

   Im Stil wirklich guter Milieufilme ist auch dieser ganz einfach, klar und direkt, teilweise komisch aber nie ironisch, ziemlich realistisch und illusionsfrei, aber dennoch solidarisch mit den Figuren, und genau das ist sehr wichtig. Zwischen Kroko und beispielsweise Micha, die als Repräsentanten zweier sehr konträrer Welten gelten können, liegen gewaltige, und vielfach auch unüberbrückbare Differenzen, und dennoch teilt die Regisseurin Verständnis, Sympathie und eben Solidarität auf, schlägt sich nicht auf eine Seite, obwohl gerade Kroko es einem sehr leicht machen würde, sie schlicht als dumme, faule, aussichtslose Zicke abzutun und Micha wie schon gesagt auf den ersten Blick einem Rollenbuch für den guten, wackeren, aufrechten Sozialarbeiter entsprungen zu sein scheint. All dies wird aufgefangen von der Offenheit der Inszenierung und der Spontaneität und Echtheit der Laiendarsteller, die ganz toll sind und so ungekünstelt, wie auch die besten Schauspieler es kaum sein könnten. Die Engländer können so was hervorragend, und die Ergebnisse sind immer wieder beeindruckend. Und wie man sieht, können die Deutschen das auch – wenn sie nur wollen. (16.6.)