Lilja 4-Ever (#) von Lukas Moodysson. Schweden/Dänemark, 2002. Oksana Akishina, Artiom Bugucharskij, Ljubov Agapova, Lilia Sinkajova, Tomas Neumann, Elina Benenson

Lukas Moodysson war bislang mit zwei Filmen hierzulande zusehen, zwei hervorragenden Filmen, zum einen der Provinzballade „Raus aus Amål“ und der Kommunenkömodie „Zusammen“, zwei Filme, mit denen er sich als einer der leider nur sehr wenigen neuen Hoffnungsträger des schwedischen Kinos etabliert hat, zwei Filme, die ihn als einen eigenwilligen, originellen, sehr humorvollen und auch modernen Autor/Regisseur ausweisen, aber dennoch zwei Filme, die in keiner Weise auf das vorbereiten, was man in diesem dritten Film hier zu sehen bekommt. Dieser dritte Film Lukas Moodyssons spaltet sehr leicht die Zuschauerschaft – die einen werden ihn begeistert loben als ausdrucksstarken, äußerst kompromißlosen und äußerst erschütternden Bericht über menschliche Demütigung, Ausbeutung und Mißhandlung im heutigen Europa zwischen Ost und West, sofern diese Grenzziehung überhaupt noch relevant ist. Und die anderen werden ihn ablehnen (und lehnen ihn, wie ich lese, teilweise auch ab) als einseitig negative, kraß pessimistische und ausweglose Tristesse, in der es keine Hoffnung gibt und keinen Sinn, also auch eigentlich keinen Sinn für einen Film, denn Filme, so scheinen manche zu glauben, müssen immer einen Ausweg oder immer irgendwo eine Hoffnung in sich bergen. Ken Loach zum Beispiel hat das mit fast allen seiner Filme so gehalten (außer mit dem letzten) und damit wunderbare Resultate erzielt. Lukas Moodysson seinerseits findet in seiner Geschichte keinen Ansatz zur Hoffnung, dennoch ist sein Film nicht weniger überzeugend oder eindrucksvoll. Es kommt eben darauf an, was man zeigen will und in welchem Milieu man sich bewegt.

Das Milieu des aktuellen Rußland nach dem Zerfall jedenfalls ist nur niederschmetternd, ohne den allergeringsten Anlaß zum Optimismus, und da befindet sich Moodysson in absoluter Übereinstimmung mit den russischen Filmemachern, die genau das gleiche Bild ihres zerstörten, heruntergekommenen, von Gewalt und Korruption beherrschten Landes zeichnen, und wenn unsereiner in seiner verwöhnten Naivität vielleicht die Nase rümpft und mosert, all dies sei doch wohl reichlich übertrieben, so fürchte ich, haben wir einfach keine Ahnung von den wahren Verhältnissen dort hinten.

 

Moodysson erzählt die schlimme Geschichte der sechzehnjährigen Lilja, die von ihrer Mutter einfach im Stich gelassen, von ihrer Tante aus der Wohnung geworfen, von ihrer Freundin verraten und schließlich von einem jungen Typen nach Schweden gelockt wird, angeblich um dort als Landwirtschaftshelferin Geld zu verdienen. Sie gerät aber nur an einen brutalen Zuhälter, der sie an schwedische Bürger verkauft, einsperrt, verprügelt, so lange, bis Lilja schließlich ihrem bislang einzigen Freund, einem elfjährigen Jungen aus der heimatlichen Nachbarschaft, in den Tod folgt. Dieser Tod, oder besser das Leben nach dem Tod scheint in dieser Welt, so wie sie sich Lilja präsentiert, der einzig friedvolle und schöne Ort zu sein, und dieses endgültige Fazit ist das eigentlich bestürzende, beklemmende an diesem Film, der von Anfang an in seinen Milieu- und Menschenschilderungen so dicht und realistisch ist, daß man kaum unbeteiligt bleiben kann, auch wenn man die grundsätzlich pessimistische Haltung ablehnen mag. Die entsetzlichen Ghettos in der russischen Vorstadt heben sich dabei nur oberflächlich von denen der schwedischen Stadt ab. Auch dort herrschen trotz des gepflegten Äußeren Einsamkeit, Gleichgültigkeit und Gewalt, nur eben versteckter und verschämter als in Rußland. Niemand hört Liljas Schreie in der Wohnung, in der sie eingesperrt lebt, niemand hilft ihr, niemand schert sich um eine russische Hure, weil es schon zu viele von ihnen gibt, und weil allgemein angenommen wird, sie seien für ihr Schicksal allein verantwortlich. Hinter den sauberen, spießigen Fassaden schwedischer Bürgerlichkeit verbergen sich die gleichen Perversionen, die gleiche Kaltblütigkeit wie überall sonst auch. Die russische Hure wird als Ware benutzt, denn russische Huren stehen allgemein in der gesellschaftlichen Hackordnung ganz unten, weil man sie gern auch stellvertretend für den Niedergang ihres Landes verachtet. Moodyssons Beschreibung des Leben in Rußland kann niemanden überraschen, der russische Filme kennt. Von daher weiß man, daß Menschenleben dort wenig zählen, daß jeder absolut rücksichtslos für sich kämpft, daß Überleben an sich schon schwierig genug und für Menschlichkeit wenig Raum ist. Liljas Sehnsucht nach einem leichteren, fröhlicheren Leben wird frühzeitig zunichte gemacht von dem unglaublich egoistischen und rohen Verhalten ihrer eigenen Familie, und schließlich muß sie sich mit einem anderen Außenseiter, dem Jungen Volodja zusammentun, der ebenfalls von seiner Familie ausgestoßen wird und meistens auf der Straße lebt. Aber was uns hier von Schweden gezeigt wird, zerstört schon das eine oder andere heile Bild im Kopf des Astrid-Lindgren-Lesers, denn das hat nichts mehr zu tun mit dem lieblichen, ländlichen, friedlichen und freundlichen Land, wie wir es gern hätten, ganz einfach weil man sich ja inmitten all des Chaos’ ein heil gebliebenes Paradies des Friedens und der Menschlichkeit erträumt. Schweden hat früher mal al solches fungiert, bis modernere Schriftsteller (die Krimiautoren vor allem) und Regisseure dieses Bild zurechtgerückt haben, so wie Moodysson es ebenfalls tut. Er erzählt von dem verzweifelten Kampf Liljas gegen ihre Demütigung und Mißhandlung, und wie sie schließlich gegen die Grausamkeit ihrer Umgebung verliert. Natürlich ist das harter Stoff, und ganz gewiß kann man sich das nicht in jeder Gemütsverfassung anschauen, und man mag sich in der Tat die Frage stellen, warum um alles in der Welt man sich solch deprimierende Sachen ansehen muß, wo doch schon unsere allernächste Umgebung Anlaß genug gibt für Depressionen. Ich habe mir diese Frage allerdings noch nie gestellt, denn ich finde es absolut legitim, solche Geschichten aus der heutigen Welt zu erzählen, weil die heutige Welt ganz einfach so ist. Sie ist sicherlich zum Teil auch anders, aber sie ist auch so wie hier, und weshalb sollte man davon nicht erzählen. Die einen interessiert es halt, die anderen nicht, und die können ja zuhause bleiben. Sie versäumen in diesem Fall einen äußerst intensiven, äußerst beeindruckend gespielten Film von finsterer, unerbittlicher Konsequenz, der bis zum bitteren Ende tragisch und niederschmetternd bleibt, der dabei seine Personen nicht benutzt für eine plakative soziale oder politische Anklage, der aber sehr wohl natürlich durch die Geschichte von sozialen und politischen Verhältnissen berichtet, nur daß moderne Filme nicht mehr gern offen engagiert sind, sondern lieber nur die Dinge zeigen und dann den Zuschauern den Rest überlassen. Nun gut, daran kann man sich gewöhnen, und wenn man das getan hat, so wie ich, kann man diesen Film schon als sehr bemerkenswert und eindrucksvoll bezeichnen. So schnell wird er mir jedenfalls nicht aus dem Kopf gehen. (28.1.)