Mar adentro (Das Meer in mir) von Alejandro Amenábar. Spanien, 2004. Javier Bardem, Belén Rueda, Lola Dueñas, Mabel Rivera, Clara Segura, Celso Bugallo, Joan Dalmau, Alberto Jiménez

   Ramón aus Galizien springt in zu seichtes Wasser, bricht sich auf dem Meeresboden das Genick, wird aber gerettet und verbringt die folgenden achtundzwanzig Jahre als Tetraplegiker im Bett, aufopferungsvoll gepflegt von der Familie seines älteren Bruders. Schließlich nimmt er Kontakt zu einer Gruppe auf, die für einen selbstbestimmten Tod eintritt, weil er endlich sterben und sein wie er es sieht unwürdiges Leben beenden möchte. In den letzten Monaten seines Lebens lernt er noch zwei Frauen kennen, sie ihn stark beeindrucken: Die Anwältin Julia, in die er sich verliebt und die selbst bald unter einer unheilbaren degenerativen Krankheit leiden wird, und Rosa, die sich in ihn verliebt, ihn heiraten, ihn zunächst retten, ihm dann aber helfen möchte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die spanische Gerichtsbarkeit entwickelt für sein Anliegen erwartungsgemäß kein Verständnis, zu dominant sind noch die katholischen Dogmen, zu unbeweglich die öffentlichen Organe. Die Menschen auf der Straße sympathisieren eher mit ihm, ein ebenfalls völlig gelähmter Priester will ihn vom Sinn des Lebens überzeugen, doch schließlich schluckt Ramón ein Glas Wasser mit Zyankali und läßt sein schlimmes Sterben von einer Kamera filmen.

   Diese Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, und wie ich las, haben Amenábar und seine Leute sich dafür entschieden, den offenbar recht furchtbaren Tod Ramóns aus Rücksicht auf die Zuschauer nicht in voller Länge abzubilden, sondern lediglich eine ganz kurze Sequenz beibehalten, was ich persönlich bei aller Sympathie für das Anliegen des Films nicht ganz in Ordnung finde, das das qualvolle, lange Sterben gehört leider auch zu den Konsequenzen von Ramóns Entscheidung, und ohne sie an sich gleich in Frage zu stellen, muß man sich, finde ich jedenfalls, auch damit auseinandersetzen, und es bringt wenig, hier etwas zu verkürzen und damit zu verharmlosen. Der Tod ist im übertragenen Sinne für Ramón sicherlich die lang ersehnte Erlösung, in dem Moment jedoch ist er grausam und deshalb hätte er ruhig auch so dargestellt werden können. Amenábars Position ist also eindeutig – er stellt sich auf Ramóns Seite, votiert klar und deutlich für ein würdevolles, selbst bestimmtes und verantwortliches Sterben, für die freie Wahl des mündigen Menschen, ein als unerträglich und würdelos empfundenes Leben zu beenden, ohne das diejenigen, die ihm dabei helfen müssen, mit Strafverfolgung zu rechnen haben. Eine in den letzten Jahren öffentlich und breit geführte Diskussion, die Eiferer auf beiden Seiten auf den Plan ruft, religiöse Dogmatiker, radikale Ethiker und Mediziner, Mahner mit Blick auf die Historie (speziell in Deutschland), die einen, die dem Menschen das Recht absprechen, in Gottes Schöpfung derart einzugreifen, andere, die dem Menschen die volle Kontrolle über den eigenen Tod zubilligen. In diesem Film erhalten all diese Positionen eine Stimme. Ramóns Bruder verbietet ihm, in seinem Haus zu sterben, die spanischen Richter sprechen ihm das Recht ab, seinen Tod selbst herbeizuführen, der Priester im Rollstuhl erklärt Ramóns Absicht als ultimative Sünde und menschliche Anmaßung. Ramón hält dem seine Geschichte entgegen: Achtundzwanzig Jahre gelähmt im Bett, hilflos, gefühllos, stets auf die Hilfe anderer angewiesen, eine Last für die Familie des Bruders, von der er ein unermeßliches Opfer einfordert, selbst vollkommen aus dem Leben gerissen, zutiefst verbittert, frustriert, resigniert. Die beiden Frauen stellen jeweils auf ihre Art noch einmal eine Verbindung zum Leben her, doch schwankt sein Entschluß auch jetzt nicht, selbst wenn Rosa mit ihrem zwei Kindern ihn heiraten und ihm eine neue Familie bieten möchte, und selbst wenn Julia in ihm ungeahnte tiefe Gefühle weckt. Bei aller Eindeutigkeit in der Position zeigt Amenábar jedoch keinen Märtyrer, ist sein Film kein total einseitiges gesellschaftspolitisches und ethisches Pamphlet. Zum einen unterläuft er sein oftmals sehr bitteres, dramatisches Thema mit Vitalität und Humor, zeigt Ramón nicht als unendlich leidendes Opfer, sondern als einen schlagfertigen, sperrigen Typen, der keiner verbalen Auseinandersetzung ausweicht. Und zum anderen beleuchtet er immer wieder die Situation seiner Schwägerin und seines Bruders, und hier tritt sehr eindrucksvoll die andere Seite der Medaille zum Vorschein. Man sieht drei Menschen, die sich für Ramón unermüdlich aufopfern, die ihre eigenen Berufs- und Lebenspläne zurückstellen (der Bruder wird sogar vom Seefahrer zum Bauern auf kargem galizischem Boden), die Tag und Nacht rund um die Uhr für ihn da sind, die seine Launen ertragen, seinen Egoismus, sein trauriges Schicksal. Zu Ramón gehören diese Leute unbedingt und untrennbar, ihre Geschichte muß gemeinsam mit seine erzählt werden, denn ohne sie gäbe es ihn vermutlich so gar nicht mehr, hätte er niemals die Unterstützung, Liebe und Pflege erfahren, um so weit zu kommen. Amenábar baut hauptsächlich auf den emotionalen Gehalt, und gerade im Miteinander Ramóns und der Familie hat er seine beeindruckendsten, bewegendsten Momente, weil man hier unmittelbar erfährt, wie hart sein Schicksal auch das der anderen getroffen hat.

 

  Auch sonst ist dieser Film enorm kraftvoll, emotional, ausdrucksstark. Die abstrakten, klischeehaften, wenig hilfreichen Sprüche des Priesters und der Richter als Repräsentanten des katholischen Rechtsstaates werden der aktiven, humanen, liebevollen und engagierten Hilfe der vielen Freunde Ramóns gegenüber gestellt, und es wird deutlich, daß die tradierten Werte in diesem Falle an konkreten menschlichen und humanistischen Bedürfnissen und Situationen vorbeigehen, und daß es eigentlich kaum ein wirklich nachvollziehbares Argument gegen Ramón gibt, es sei denn, er selbst fände doch noch einen Sinn in seinem Leben. Die Frage, warum sich viele Autoritäten so schwer damit tun, einem Menschen diese Selbstbestimmung zuzubilligen, bleibt auch hier unbeantwortet, zumal in einem Fall wie diesem, da der Betroffene bereits fast drei Jahrzehnte Leid und Siechtum hinter sich hat. Amenábar setzt das Ganze mit seinem typischen Sinn für Stimmungen, starke optische Wirkung und eindringliche Emotionen in Szene, ganz klar nicht an einer nüchternen Diskussion interessiert, andererseits aber auch nicht polemisch und einseitig, sondern durchaus sehr kontrovers und differenziert. Es wird sehr viel gerungen, debattiert, gestritten, es gibt keine klaren, einfachen, Lösungen, keine einfache Wahrheit, jeder hat seine Wahrnehmung, Träume und Gefühle und auch ein Recht darauf. Am Schluß, und damit komme ich wieder auf den Anfang zurück, wird Ramóns Sterben im Vergleich zu Julias vermutlich noch sehr langem, fürchterlichen Leiden für mein Gefühl ein wenig unangemessen betont, in diesem Fall das einzige Beispiel für eine Gewichtung, die ich so nicht stützen würde. Aber es ist Amenábars Gewichtung, das ist akzeptabel und man kann sich damit auseinandersetzen. Ansonsten sind die Schauspieler überragend, viele Szenen von großartiger Intensität und Schönheit, und wem dieses Thema überhaupt irgendwie wichtig ist, sollte den Film dringend sehen. (17.3.)