La meglio gioventú (Die besten Jahre) von Marco Tullio Giordana. Italien, 2003. Luigi Lo Cascio, Alessio Boni, Adriana Asti, Sonia Bergamasco, Fabrizio Gifuni, Maya Sensa, Valentina Carnelutti
Vor dreißig Jahren hat Signore Bertolucci in „Novecento“ schon mal den Anlauf zu einem großen Jahrhundertfilm gemacht und die Emilia Romagna zum exemplarischen Schauplatz für fünfzig Jahre italienischer Geschichte auserkoren. Das Resultat hat mir noch nie gefallen und wird mir auch nie gefallen, zu sensationsgeil sind für meinen Geschmack Bertoluccis Hervorhebungen bestimmter Details ausgefallen, zu pompös der gesamte Ansatz, wahre Menschlichkeit und der Blick auf einzelne Personen gingen dabei, so habe ich es jedenfalls empfunden, trotz erheblichen Starauftriebs auf die Dauer baden, und so wurden fünfeinhalb Stunden, selbst aufgeteilt in zwei Sitzungen, zu einer ordentlich langen Strecke.
Nicht so in diesem Fall: Sechs Stunden, auch diese gesplittet in zwei mal drei, werden in keinem Augenblick lang – total absorbiert, bewegt und fasziniert verfolgte ich das Geschehen vom Anfang bis zum Ende, hätte problemlos noch mal drei Stunden davon miterleben wollen, und dachte am Schluß, wenn man überhaupt mal so etwas wie ein mehrere Jahrzehnte umspannendes Familienepos machen möchte, dann sollte es so wie dieses sein: Großartig und groß, aber eben, und das ist der wichtigste Unterschied zu Bertolucci, niemals zu groß.
Eine TV-Produktion eigentlich, die die Geschichte der insgesamt sechsköpfigen römischen Familie Carati von 1966 bis 2003 erzählt, und damit zugleich knapp vier Jahrzehnte italienischer Historie umreißt, wobei die individuelle Geschichte stets im Vordergrund vor der offiziellen steht. 1966 stehen Nicola und Matteo Carati kurz vor ihren Examensprüfungen, Nicola eher der gewissenhafte, fleißige Typ, Matteo eher der launische hochbegabte, dem eine große Zukunft vorausgesagt wird. Doch schon die Examina weisen den Weg: der Literaturfan Matteo schmeißt einfach alles hin, weil er sich mit der Lesart und Meinung des Prüfers nicht konform erklären kann, während Nicola auf dem Gebiet Medizin besteht, und zwar hauptsächlich, wie ihm der Prüfer rundheraus erklärt, aus Gründen der Sympathie. Mit zwei Freunden planen die beiden danach eine Reise nach Norwegen, doch als Matteo das Mädchen Giorgia kennenlernt, das seit Jahren in der Psychiatrie ein finsteres Dasein fristet, ändern sich nicht nur die kurzfristigen Pläne der Brüder, sondern vor allem Matteos gesamtes weiteres Leben grundlegend. Es würde viel zu lange dauern, um den gesamten Handlungsbogen wiederzugeben, daher nur in groben Zügen das weitere: Nicola reist allein nach Norden, hilft dann bei der großen Flut in Florenz, lernt dort Giulia kennen, und hat mit ihr eine Tochter, Sara. Giulia verläßt später die Familie, die nun in Turin lebt, wo Nicola als Arzt und Gutachter arbeitet, und geht in den terroristischen Untergrund. Nicola verrät sie an die Polizei, um zu verhindern, daß sie Menschen tötet. Matteo geht zum Militär, landet dann bei der Polizei, bleibt privat einsam und unstet. Er lernt eine Frau aus Stromboli kennen, kann jedoch keine feste Bindung zu ihr eingehen, hält lockeren Kontakt zur Familie, ist jedoch auch Nicola nicht mehr wirklich nahe und begeht in der Silvesternacht 1983 Selbstmord. Nicola erfährt Jahre später, daß aus der kurzen Liaison Matteos mit der bewußten Frau (an deren Namen ich mich jetzt leider nicht erinnere) ein Sohn hervorgegangen ist, und gemeinsam mit der Mutter fahren sie nach Stromboli und stellen die Verbindung wieder her. Nicolas Schwester Francesca, die seinen alten Freund Carlo geheiratet hatte, läßt sich in der Toskana nieder, und auf dem Anwesen trifft sich die ganze Familie wieder. Nachdem Vater Carati vor längerem schon gestorben war, stirbt dann auch die Mutter, Nicola tut sich mit der Frau aus Stromboli zusammen, Matteos Sohn geht auf eine Reise nach Norwegen auf Nicolas Spuren und schließt mit der Erkenntnis: Alles ist schön.
Zugegeben, die abschließenden fünfzehn, zwanzig Minuten sind vielleicht ein bißchen arg harmoniesüchtig, aber natürlich darf man den ganzen Film nicht auf diesen letzten Satz reduzieren, und zweitens hat man auch als Zuschauer das Gefühl, daß nach sechs Stunden randvoll mit Schicksal alle Beteiligten eine versöhnliche Perspektive verdient haben, so daß also selbst ein nüchterner Klotz wie ich mit diesem Ausgang ganz gut leben kann. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß ein paar Biographien eben nicht abgerundet werden: Giorgia wird von Nicola aus den geschlossenen Anstalten herausgeholt und in eine Art Wohngruppe vermittelt, doch ob ihr der Sprung in die sogenannte Freiheit tatsächlich auf Dauer gelingt, erfahren wir nicht. Giulia kommt nach einigen Jahren aus dem Hochsicherheitstrakt und arbeitet in Florenz, wo Sara Kontakt zu ihr aufnimmt, doch offensichtlich hat sie Probleme mit ihrer Rolle als Mutter und wird sich auf keinen Fall wieder in die Familie integrieren wollen, und ihre dunkle Sonnenbrille setzt sie bezeichnenderweise am Ende auch wieder auf. Also kann man eigentlich nicht behaupten, daß alles in eitel Sonnenschein endet. In den sechs Stunden spielt sich, wie gesagt, große und kleine Geschichte ab, die große immer ganz konsequent nur als Bühne für die kleine, was schließlich auch eine der großen Stärken des Films ausmacht. Nie werden, wie etwas bei Bertolucci, die einzelnen Menschen erdrückt vom historischen Kontext, immer werden wir nur in kurzen Sequenzen schlaglichtartig an das erinnert, was sich in den betreffenden Jahren zutrug: Die Jugend- und Hippiebewegung, die auch Italien am Rande streifte, die große Psychiatriedebatte mit ihren schwierigen Auswirkungen, der Arbeitskampf vor allem im Norden, der Linksterrorismus, der Pabst, Bilder von Reagan, Gorbatschow, aber auch von der Fußball-WM 1982 und dazu noch ein paar spezifisch italienischen Affären, die mir persönlich nicht geläufig sind. Die Caratis werden von all diesen Dingen nicht überrannt, ihr Leben wird in unterschiedlicher Weise und Intensität, durchaus von ihnen berührt oder, wie im Fall des Terrorismus, stark geprägt, aber sie werden nie zu Marionetten oder Botschaftsträgern, sie bleiben Individuen und vor allem bleiben sie uns nahe. Dies ist die zweite große Stärke des Films, sicherlich die bedeutendste, seine beeindruckende Intensität, die Nähe zu den Menschen, die wir zwar nicht immer in allem begreifen was sie tun, was ja nur natürlich ist, denen wir uns aber jederzeit verbunden fühlen. Die Schauspieler sind sämtlich überragend und die Regie ist klug genug, die dramaturgischen Akzente dezent zu setzen, ohne Lärm und Pathos, ohne schrille Sensationen oder großen Gefühlsaufwand, der gar nicht nötig ist, denn Emotionen stellen sich ganz von allein in reichlichem Maße ein, weil man als Zuschauer bereits nach kürzester Zeit hineingezogen wird in den Fluß der Geschichte und bis zum Ende dabei bleiben möchte.
Wie gesagt, es macht wenig Sinn, jedes Detail hier zu kommentieren und aufzugreifen, seine faszinierende Wirkung entfaltet der Film von selbst während des Zuschauens, und ich persönlich war lange nicht mehr so berührt und fasziniert im Kino, und das über eine solch lange Strecke. Wen es je einem Film gelungen ist, den buchstäblichen Lauf der Zeit in Bildern festzuhalten und auch das, was aus Leuten wird und was sie selbst mit ihrem Leben anstellen, dann diesem hier. Ein ganz großer Wurf und ohne Zweifel eines der eindrucksvollsten Filmprojekte der letzten Jahre. (6./8.6.)