The Grey Zone (Die Grauzone) von Tim Blake Nelson. USA, 2001. David Arquette, Daniel Benzali, David Chandler, Alan Corduner, Harvey Keitel, Steve Buscemi, Mira Sorvino, Natasha Lyonne

   Wir wissen das ja – ein Film über Auschwitz kann niemals richtig gelingen (wenn dieses Wort in diesem Rahmen überhaupt passend ist), weil ein Film über Auschwitz der Realität niemals auch nur annähernd gerecht werden kann. Wer es also dennoch versucht, kalkuliert ein gewisses Scheitern von vornherein ein und weiß auch, daß gewisse Kritiker hervorkriechen und von Banalisierung, Verharmlosung und dergleichen faseln werden. Und wer es dann immer noch versucht, ist entweder sehr einfältig oder aber er weiß genau, daß er dennoch etwas zu sagen hat, was diesen Film möglicherweise rechtfertigen könnte. Solch ein Film ist das hier.

   Er erzählt von einem der Sonderkommandos in Auschwitz im Jahre 1944, und zwar vom zwölften von insgesamt dreizehn. Sonderkommandos waren von den Nazis eingesetzte Häftlinge, die mithalfen, den Vernichtungsapparat in Gang zu halten. Sie begleiteten die Menschen aus den Zügen in die Gaskammern, ließen sie sich ausziehen, versuchten für Ruhe zu sorgen. Und nachher schafften sie die Leichen fort und verbrannten sie in den Krematorien. Dafür durften sie damit rechnen, bestenfalls vier Monate länger zu leben, bevor sie dann auch ermordet wurden. Damit beschäftigt sich der Film zu einem großen Teil: Für einen geringfügigen Lebensaufschub, dennoch stets mit der sicheren Aussicht auf den Tod, waren diese Männer bereit, sich von den Schlächtern zum Handwerkszeug machen zu lassen, die schlimmste Drecksarbeit zu verrichten, schlimmstenfalls sogar am Ende ihre eigenen Familien in die Öfen zu schieben. Der unfaßbare Zynismus der Nazis, der hinter diesem System steckt, trifft diese Männer in jedem Moment ihrer letzten Wochen, und sie alle wissen, daß ihr Leben so oder so vorbei ist, denn keiner von ihnen könnte, selbst wenn er irgendwie lebend aus dem Lager käme, in die Normalität zurückkehren, den Mitmenschen unter die Augen treten und darüber sprechen, was sie getan haben. Es gibt keine Worte für das, was sie tun, es gibt keine unter normalen Umständen gültige Rechtfertigung. Aber dies ist Auschwitz, das eine Symbol für einen Ort in der Geschichte, an dem alles, was jemals als normal und menschlich gegolten hat, mit einem Mal keine Bedeutung mehr hat, keinen Wert. Dies verdeutlich der Film in seinen stärksten Szenen viel klarer, als jeder andere, den ich davor gesehen habe. In Auschwitz wurden mehr als eine Million Menschen industriell und systematisch getötet, in Auschwitz wurden aber auch zu gleicher Zeit jeder Begriff von Menschlichkeit, jegliche Wertigkeit menschlichen Lebens und menschlicher Würde vollständig und mit einer in der gesamten Geschichte wahrscheinlich beispiellosen Grausamkeit eliminiert. Dafür kann man immerhin Bilder finden und vielleicht Worte, man kann eine Ahnung davon vermitteln, ohne in den Kern dieses Gefühls, dieser maßlosen Demütigung und Entwürdigung vorzudringen. Man sieht die Gesichter der Männer, die Leichenberge wälzen, die Tote ausplündern, die die letzten Habseligkeiten tausender ermordeter Juden stapeln, die untereinander verzweifelt um eine kleine Vergünstigung kämpfen und irgendwie versuchen, von Tag zu Tag am leben zu bleiben. Wir sehen einen jüdischen Arzt, der Dr. Mengele unterstellt ist, seinen viehischen Menschenversuchen assistiert und auch nur versucht, seine Frau und Tochter im Lager zu retten und schließlich sogar mit einem Oberscharführer Handel treibt. Wir erleben den Versuch, einen Aufstand zu organisieren, eine Flucht oder wenigstens die Sprengung der Krematorien. Wir sehen schreckliche Folter, Massenerschießungen und ein Mädchen, das die Gaskammer überlebt hat und nun versteckt werden soll. Wir sehen mehr, als man eigentlich verkraften kann, Dinge, die uns bis ins Mark treffen, selbst wenn wir ähnliches schon häufig gesehen oder gehört haben, und wissen doch immer, daß das nicht alles ist, daß es nur ein Ausschnitt ist, ein Versuch, ein Ansatz. Allerdings ein in vielen Aspekten sehr gelungener und bemerkenswerter. Wenig Sinn macht dabei ein Vergleich, etwas mit Spielbergs populärem „Schindlers Liste“ oder mit Claude Lanzmans „Shoa“, der noch immer zwingendsten Aufarbeitung des Holocaust. Jeder dieser Filme bedient sich anderer Mittel, manche sind mir lieber, andere eher suspekt, aber das, was sie zeigen wollen, wofür sie einstehen, ist ihnen gemeinsam.

   Dieser Film hat auch seine Schwächen. Die deutlich theaterhaft geschliffenen Dialoge wirken in ihrem Kontext zum Teil merkwürdig gestelzt und teilweise etwas zu unnatürlich. Die genaue Aufgabe des Arztes, sein furchtbares Handwerk, wird ausgespart, im Gegensatz zu dem, was die Männer des Sonderkommandos tun. Und Harvey Keitel kann ich mir zwar in vielen Rollen vorstellen, und habe ihn auch schon in vielen Rollen gesehen, aber als SS-Oberscharführer ist er ganz und gar undenkbar und unpassend. Um so überzeugender sind dagegen die übrigen Darsteller und eine Regie, die ihre Absichten sehr klar herausarbeitet, was bei diesem wahrhaft monströsen Thema nicht so einfach ist.

   Ein paar Fragen bleiben dann noch, bezogen auf Teutschland. Wieso kommt dieser Film erst vier Jahre nach seiner Entstehung ins Kino? Etwa passend zum 50jährigen Gedenken an Auschwitz? Dazu ließe sich nur soviel sagen, daß man an Auschwitz immer denken sollte und nicht nur zu glatten Jahreszahlen. Und was ist eigentlich mit einem deutschen Film über Auschwitz? Was ist mit einem deutschen Film über KZs überhaupt? Vielleicht gibt es ein paar kleine TV-Produktionen, und dann den einen großen, 40 Jahre alten DDR-Film „Nackt unter Wölfen“, aber unser holder freier Westen hat sich mit diesem Thema immer unglaublich schwer getan und ist lieber auf Nebenschauplätze ausgewichen, bis heute noch. Napola und Führerbunker und, wenn gar nichts mehr geht, mal wieder Stalingrad. Offenbar hat man hierzulande Angst oder Hemmungen was das Thema angeht, allerdings wüßte ich gern, woher diese Ängste rühren.

 

   Die Amerikaner haben sie offenkundig nicht. Oft genug sind leider nur Seifenopern dabei herausgekommen, aber dies ist eindeutig ein sehr ernsthaftes, seriöses, komplexes Werk mit sehr eindringlichen, erschütternden Momenten, mit den erwähnten Schwächen, aber mit einem beachtlich konsequent durchgezogenen roten Faden, weshalb dies von amerikanischer Seite auch einer der bislang überzeugendsten und bewegendsten Beiträge zur Sache ist. (28.1.)