L’enfant (#) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Belgien/Frankreich, 2005. Jérémie Rénier, Déborah François, Jérémie Segard

   Ganz kurz vor Schluß zeigt der blonde Bruno aus der belgischen Industrieödnis an der Maas kurz vor Lüttich eine erste nennenswerte und gleichsam überraschende Spur von Verantwortungsbewußtsein: Er geht zur Polizei und nimmt den vorausgegangenen Handtaschenraub auf sich und bewahrt so seinen vierzehnjährigen Mittäter Steve vor weiteren Problemen, zumal dieser kurz vorher auf der Flucht im eiskalten Fluß fast gestorben war. Und dann, nun wirklich ganz am Schluß, offenbart er sogar richtig echtes tiefes Gefühl, als er im Gefängnis von seiner Freundin Sonia besucht wird und dort vor ihr in bittere Tränen ausbricht, unterem anderem damit ihre Verzeihung erbittend.

   Grund dazu hat er mehr als reichlich, denn was wir in den vorausgegangenen anderthalb bitter harten Stunden mitansehen mußten, hat zumindest in mir zuletzt die blanke Wut aufsteigen lassen, und erst durch die beiden letzten Szenen, mit denen die Dardennes diesen Film völlig folgerichtig einfach beenden, verändert sich dieses Bild, gibt es plötzlich so etwas wie die Andeutung einer Perspektive für Bruno und auch Sonja. Zuvor schien dies kaum denkbar: Ein sehr junges, sozial mehr als schwaches Paar ohne Gegenwart und Zukunft bekommt ein Kind, das sie sofort annimmt, er hingegen überhaupt nicht. Brunos Gedanken kreisen einzig und allein um Geld und wie man möglichst unaufwendig dazu kommt, er entzieht sich jeglicher Verbindlichkeit und Verantwortung wo es geht, und auch als Sonia ihn endlich auftreibt (bei der Geburt des kleinen Jimmy war er natürlich nicht zugegen), scheint er die Tatsache, daß er nun Vater eines Kindes ist, überhaupt nicht zu realisieren. Er ist mehr mit seinem Handy beschäftigt, und als ihn eine Hehlerin auf die Idee bringt, das Kind an adoptionsfreudige Eltern zu verscherbeln, nimmt er das Angebot fast ohne zu zögern an. Als Sonia allerdings einen Nervenzusammenbruch erleidet und ihn bei der Polizei anzeigt, gerät seine ganze Welt bedrohlich ins Rutschen. Er holt das Kind zurück, steht aber nun bei einer skrupellosen Menschenhändlerbande aussichtslos tief in der Kreide, und der erste Versuch, per Straßenraub einen Teil des Geldes wieder reinzubekommen, endet in der Maas und letztlich im Knast.

 

   Wie bereits von früheren Werken bekannt filmen die Dardennes dieses zum Teil wirklich total erschütternde Drama kunstlos, einfach und direkt, mit unprofessionellen (aber nichtsdestoweniger großartigen) Schauspielern, in nüchternen Bildern vor Ort auf den verrußten Straßen, in spärlichen und wenig idyllischen Grünanlagen, in Industriebaracken, unten am kanalisierten, verdreckten Fluß, im Obdachlosenasyl oder in Wohnungen, deren Einrichtung unmißverständlich vom sozialen Status der Bewohner zeugt. Es gibt keine aufwendigen filmischen Mittel, keine Musik, stattdessen eine fast dokumentarisch präzise Beobachtung des Milieus und ein ebenso präziser Blick für die Menschen darin. Es wird nicht dramatisiert, nicht kommentiert, nicht polemisiert, vor allem in keiner Weise rasch und billig verurteilt, und dennoch entsteht so auf die denkbar unspektakulärste Weise ein extrem aussagestarkes, kritisches, explizites Gesellschaftsbild, in dem Leute wie Sonia, Steve und Bruno lediglich Ausformungen einer Entwicklung sind, die längst die gesamte Gesellschaft erfaßt hat, nämlich der vollständigen, alles durchdringenden Kommerzialisierung und Vernetzung, die damit einhergeht. Stets und ständig piepst ein Handy, stets und ständig sind Sonia und Bruno darum besorgt, auch ja ein Ladegerät oder gleich eine neue Karte zur Hand zu haben, und selbst als Sonia völlig am Boden zerstört ist wegen Brunos Kaltschnäuzigkeit, ist seine einzige Sorge, ob sie ihm kurz mal ihr Handy leihen könne, weil seines gestohlen worden sei. Darüber hinaus lebt Bruno in einer Welt, in der es allein um Kaufen und Verkaufern geht, wobei letztlich in Bezug auf die Kaufs- und Verkaufsobjekte überhaupt keine Grenzen mehr gezogen werden. Eine Welt, die für ihn in besonderem Maße  vom Geld bestimmt wird, da er nämlich im Grunde keines hat und auch nicht die Absicht, sich auf regulärem Wege welches zu verdienen. Er ist nicht in der Lage, für seine Freundin oder seinen Sohn ernsthafte Gefühle,  nicht mal wirkliches Interesse zu entwickeln, weil sein ganzes Denken nur auf den nächsten Deal fokussiert ist, und selbst ein paar kurze kindlich-spielerisch-zärtliche Momente können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Bruno im Gegensatz zu Sonia in geradezu beängstigendem Maße emotional und menschlich leer und unreif, eigentlich tot ist. Die Dardennes gehen gründlich und einfühlsam vor, ihnen gelingen Szenen von bedrückender, intensivster Spannung, und vielleicht sind die oben erwähnten Abschlußsequenzen deshalb so wichtig, weil sie uns davor bewahren, total frustriert und geknickt aus dem Saal zu laufen, und auch wenn der Hoffnungsschimmer nicht ganz so klar zu erkennen ist wie beispielsweise bei Ken Loach, so zeigt Bruno dennoch Ansätze zur Veränderung, zur Besinnung. Ein sehr beeindruckender, mit faszinierender Konsequenz gestalteter und gespielter Film, der ganz zu Recht dieses Jahr in Cannes den großen Preis gewonnen hat. (23.11.)