Machuca (Machuca, mein Freund) von Andrés Wood. Chile/Spanien/England, 2004. Matías Quer, Ariel Mateluna, Manuela Martelli, Aline Küppenheim, Frederico Luppi, Ernesto Malbram, Tamara Acosta

   Santiago de Chile, 1973: Draußen auf den Straßen schreien sich linke und rechte Demonstranten ihre Parolen um die Ohren, die Polizei knüppelt bereits mit Vorliebe gegen links, die Macht des Militärs wächst in dem Maße, da Allendes Einfluß schwindet. In den Vorstädten wohnen abgeschirmt die reichen Weißen, die sind natürlich für Recht und Ordnung und gegen die linken Chaoten. Gonzalo wächst in einem solchen Elternhaus auf, der Papa ist beruflich auf Achse, die Mama schläft sich durch die Gegend und shoppt sich durch die schicken Boutiquen. Gonzalo geht auf die altehrwürdige Schule St. Patrick’s, eigentlich ein Hort kolonialer, stramm konservativer Gesinnung, und ausgerechnet dort, unter all den vornehm Blassen, tauchen eines Tages ein paar dunkelhäutige und dunkelhaarige Gestalten auf, neue Schüler, die nach dem Willen der Schulleitung die alten Strukturen auflockern sollen und für mehr gegenseitiges Verständnis und mehr Toleranz sorgen sollen, woraufhin eine hitzige Kontroverse unter den Eltern entbrennt. Natürlich gibt es auch unter den Schülern viel Konflikte und Haß, aber Gonzalo freundet sich doch mit Pedro an, und der zeigt ihm, wo er herkommt, nämlich aus dem Elendsviertel aus Bretterbuden draußen vor der Stadt. Dort lernt Gonzalo auch das Mädchen Silvana kennen, und zu dritt verkaufen sie Fahnen auf Demonstrationen jeglicher Couleur, legen sich mit wütenden Rechten an und unternehmen erste erotische Experimente, und Gonzalo verliebt sich in das Mädchen. Dann langt die Wirklichkeit hin: Das Militär putscht, Pinochet kommt an die Macht, die liberalen Padres haben an der Schule nicht länger das Sagen, alles, was irgendwie nach Opposition ausschaut, wird entweder gleich ermordet oder verschleppt, die Bretterbuden vor der Stadt werden mitsamt ihrer Bewohner abgeräumt, und Gonzalo, als er für einen kurzen Moment die Wahl hat, sich zu seinem Freund Machcua zu stellen oder nicht und damit sein Leben zu riskieren, wählt die Sicherheit, flieht, und lebt fortan mit Schuld und hilflosem Saufbegehren, das ihm aber seinen Freund nicht wieder zurückbringen wird.

   Freundschaft und Loyalität, erste Liebe und Erwachsenwerden in schwierigen Zeiten, scheinbar unüberwindliche Gräben überwinden, erkennen, wer man ist und was man will und sich anschließend dazu bekennen, auch wenn es wehtun wird, und vor allem: Unter welchen Bedingungen lebt man, und was lassen diese Bedingungen zu, wozu zwingen einen die Bedingungen und was lernt man daraus, wie erlebt man als Kind die Welt der Erwachsenen und was lernt man daraus? Das alles sind klassische Themen für moderne Kinder- und Jugendfilme, wie sie die Skandinavier vor allen anderen großartig beherrschen, aber auch die Franzosen oder manche Osteuropäer. Das südamerikanische Kino hat in den letzten Jahren immer mal wieder sehr beeindruckende Filme hervorgebracht, in denen gelegentlich auch mal von Kindern oder Jugendlichen die Rede war, keiner aber, den ich kenne, konzentriert sich so intensiv und ausschließlich auf diese Perspektive. Es ist alles drin, von dem ich oben spreche, und es ist noch viel mehr drin, es ist eine bittere persönliche und politische Lektion darin, eine Art coming of age oder Initiation, die über Gonzalo kommt und ihm plötzlich Dinge über die Welt lehrt, von denen er zuvor keine blasse Ahnung hatte. Er erfährt nicht nur, daß nicht alle Menschen in Santiago in solch verschwenderischem Luxus leben wie er und seine dekadente, gelangweilte und langweilige Mutter, er erfährt vor allem, daß daraus weitreichende Konsequenzen entstehen für die soziale Ordnung und für die politischen Ansichten der Menschen in ihren jeweiligen Lebensumständen. Damit macht Gonzalo eine elementare gesellschaftliche und politische Erfahrung, und wir vollziehen sie Schritt für Schritt nach, empfinden seine Angst, seine Unsicherheit, seine Neugier, seine Vorurteile, schließlich seine Freundschaft und seine Liebe. Die Welt Pedros und Silvanas bleibt ihm fremd, doch sie scheint ihm offener, ehrlicher, verständlicher und auch wärmer als die Lügen, die hinter Einkaufsräuschen verborgene Leere und Kälte, die Unaufrichtigkeit und Herablassung seiner Mutter und ihres Geliebten. Gonzalo begreift, daß die chilenische Gesellschaft auf Rassismus begründet ist, daß die Nachfahren der Kolonialherren die Nachfahren der Ureinwohner verhöhnen, diskriminieren, ausgrenzen und in wirtschaftlicher Not und Armut halten. Pedros ewig betrunkener Vater bringt es auf den Punkt: Was machst du in dreißig Jahren, wenn deinem  weißen Freund mittlerweile die Firma seines Pappis gehört? Du wirst noch immer sein Klo putzen, so wie alle Farbigen die Klos der Weißen putzen. Eine Zeitlang scheint es so, als könnten die Jungs den Graben, der sie trennt, überwinden, doch Pedro und Silvana sind nicht so naiv wie Gonzalo, weil sie ein anderes Bewußtsein ihrer Herkunft, ihrer Geschichte haben – Gonzalo hat so etwas gar nicht, weil er es nicht braucht. So ist es am Ende nicht nur die militärische, staatliche, faschistische Gewalt, die alles vernichtet, was sich hätte entwickeln können zwischen den dreien, es sind auch die seit Jahrhunderten angelegten Strukturen, nach denen Chile immer funktioniert hat und wahrscheinlich auch heute noch funktioniert, Demokratie hin oder her. Der Film sagt und zeigt uns all das mit zugleich unerhörter Selbstverständlichkeit, Klarheit und Leichtigkeit und andererseits enormer Komplexität. Er ist sehr gefühlsbetont, sehr eindringlich, zart komisch und tiefernst zugleich, stark engagiert und politisch deutlich positioniert, doch fehlt ihm jegliche Naivität, jegliche sendungsbewußte Sentimentalität, er gaukelt keine wohlfeile Lösung vor, wo sie nicht realistisch angenommen werden kann. Gonzalos Überlebensinstinkt ist stärker als irgendein in ihm heranwachsendes politisches Bewußtsein, und wer von uns (so diskutierten mein ewiger Mitstreiter und ich hernach in der Tapas Bar) hätte wohl anders gehandelt und sich als Held bewiesen? Über Gonzalo wird hier nicht der Stab gebrochen, er ist Teil eines System, einer Tradition und hat keine Schuld daran, es ist eher die Frage, was er selbst tun wird, um diese Tradition nicht ungebrochen weiterzugeben an seine Kinder, so wie seine Eltern es noch getan haben. Die letzten Filmszenen deuten an, daß er möglicherweise etwas gelernt hat und daß sich etwas tiefgreifend in ihm verändert hat, aber das war 1973 und da war Pinochet erst am Anfang.

 

   Alles in allem halte ich den Film für großartig gelungen und sehr eindrucksvoll und ein weiteres wichtiges Lebenszeichen aus einem Subkontinent, der eigentlich noch immer etwas fern von uns ist – das hat auch mit Politik zu tun, klar. Und wer wie ich noch nie dort war und wohl auch in absehbarer Zeit nicht dorthin kommen wird und auch keine Leute von dort kennt, ist auf kulturelle Botschafter wie Bücher oder Filme angewiesen. Wenn die Botschafter dann noch so sind wie dieser Film, nehme ich sie gern in Anspruch. (15.5.)