Netto von Robert Thalheim. BRD, 2004. Milan Peschel, Sebastian Butz, Stephanie Carlotta Koetz, Christina Grosse, Bernd Lamprecht
Der Osten blüht nicht so sonderlich in diesem Film, erst recht nicht der Berliner Osten. Von fern sieht man Turm am Alex, auf nächtlichen Radfahrten erfrischt man sich an den glitzernden Protzfassaden der neuen Reichshauptstadt, aber die Lebenswirklichkeit der sprichwörtlichen kleinen Leute hat nichts mit repräsentativem Prunk zu tun, sondern die spielt sich ab in Wohnvierteln wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, die noch genauso schäbig und armselig und halbwegs feindselig wirken wie vor der Wende, nur noch um fünfzehn Jahre heruntergekommener. Ein hübsches Milieu für die Verlierer der Wende, und Marcel ist so einer, und natürlich hat er hundert Gründe dafür und die haben alle nichts mit ihm zu tun. Ein liebenswerter Schwätzer und Chaot, ehemaliger Ladenbetreiber, Countryfan (kennt jemand aus dem Westen Peter Tschernig???), jetzt angehender Spezialist für modernsten Personenschutz und im Alltag hauptsächlich Thresenphilosoph, der seinem vietnamesischen Lieblingsimbißkoch den Lauf der Zeit erklärt. Als dann eines schönen Tages der fünfzehnjährige Sebastian aufkreuzt, erfahren wir, daß er zudem noch ein gescheiterter Ehemann und Familienvater ist, denn Sebastian hat bislang bei der Mutter und ihrem neuen Freund gelebt und reißt nun aus, als die neue Familie ein biederes Heim im Grünen bezieht, Mama wieder schwanger ist und der neue Freund mit allen Mitteln versucht, bei Sebastian als Ersatzpapa zu landen. Als er Marcel nun verkündet, er wollte für einige Zeit bei ihm wohnen, reagiert der leibliche Papa zunächst eher reserviert, denn natürlich erkennt der smarte Sohn rasch, daß Paps sein Leben alles andere als geregelt kriegt, daß er in einer miefigen Gammelhöhle haust und auch sonst nicht den Eindruck macht, als könne er das Ruder wirklich einmal herumreißen. Söhnchen aber ist nun kein larmoyanter Ossi, sondern ein zupackender Wessi geworden, und also geht’s frisch ans Werk: Vatis Bewerbungen werden auf den neusten Stand gebracht, die Rumpelkammer vorn im ehemaligen Laden wird beseitigt, neue Pläne werden geschmiedet. Nebenbei lernt Sebastian noch ein Mädchen kennen und lernt gleichzeitig, daß es doch nicht immer so einfach ist, alles so cool und glatt zu deichseln. Diese Erkenntnis hilft ihm entscheidend weiter, wenn es darum geht, für Marcels Fehltritte Verständnis und Toleranz zu entwickeln, denn Aussetzer und Scheitern gibt es nach wie vor reichlich, aber am Schluß landet der Sohn bei dem Mädchen und der Papa legt die Pistole aus der Hand, mit der er sich eben noch erschießen wollte, und schreitet mit neuem Mut in den Ostberliner Sonnenuntergang.
Ein schöner Film, ein Film für’s Herz, vielleicht eher für Männerherzen, aber die gibt’s ja schließlich auch. Ich habe ungefähr zwanzig Minuten gebraucht, um mich nicht mehr an der billigen Videooptik und dem schlechten Ton zu stören (wobei mich das sonst nicht immer so stört wie hier), dann aber konnte ich die mal tragische und mal komische Vater-Sohn-Geschichte sehr genießen. Entscheidend für mich ist, daß noch ein paar Nebenfiguren ins Spiel kommen, denn vor allem der unentwegt schwätzende und herumzappelnde Marcel ist auf Dauer ein bißchen nervig, und es braucht dringend ein paar Leute, die ein wenig Ordnung und Besinnung in das Ganze bringen und die allgemeine Perspektive ein wenig erweitern. Da kommen Sebastian und seine neue Freundin gerade recht und auch die Ex-Frau, die sich die wieder aufflammenden Spinnereien Marcels zunächst mit nostalgischer Sympathie anhört, dann aber buchstäblich wegläuft, weil sie all das nur zu gut kennt, schon einmal gründlich gelitten hat und es nun nicht mehr ertragen will. Dabei ist klar, daß Marcel durchaus unsere Sympathien hat. Einer, der den Regeln des neuen Kapitalismus nicht folgen kann oder will, der sich lieber in immer neue Traumwelten flüchtet, statt einmal zu versuchen, sich strikt an der Realität zu orientieren. Sebastian rückt ihm in vieler Hinsicht den Blick zurecht, versucht es wenigstens, hat sich aber selbst als eifriger Star-Wars-Fan eine eigene Traumwelt gebastelt, in die das Mädchen und die daran gebundenen ganz neuen Herausforderungen zunächst nicht passen wollen („Du, der Film ist so gut, den kannst du dir auch allein angucken!“). So kommt es, da wir Marcel ein wenig mit Sebastians Augen betrachten, daß wir doch keine herablassende, überlegene Position einnehmen, genau wie Sebastian auch nach herben Rückschlägen doch wieder zum Vater zurückkehrt, weil ihm das Gefühl wichtiger ist als Leistung oder Status. Diese Lektion allein macht den Film natürlich sehr sympathisch, ebenso sein warmer, genauer Blick für die Leute und ihr Milieu, der Sinn für verschmitzten, oft hübsch unerwarteten Witz und die etwas sperrigen, ausgezeichnet gespielten Charaktere, denen man sich erst nähern muß, die einem dann aber doch ans Herz wachsen. Ein Film auch, der ein bißchen mit den üblichen Ost-West-Stereotypen spielt ohne dabei in platte Ostalgie zu kippen. Und ohne die erwähnt billige Videooptik wäre ich noch glücklicher darüber gewesen! (8.8.)