Vera Drake (#) von Mike Leigh. England/Frankreich, 2004. Imelda Staunton, Phil Davis, Richard Graham, Eddie Marsan, Daniel Mays, Anna Keaveney, Alex Kelly, Lesley Manville, Sally Hawkins, Simon Chandler
Die Geschichte der Vera Drake ist, wie man erst ganz spät im Film erfährt, aber vorher schon ahnt, keine einzelne Geschichte, aber eigentlich eine furchtbar einfache: Im Nachkriegslondon, genauer gesagt 1950, lebt Vera mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer einfachen Gegen im Norden, putzt für wohlsituierte Herrschaften, pflegt ihre Mutter, schaut nach anderen bedürftigen Nachbarn und ist rund um die Uhr für die Familie da, kurz, die personifizierte totale Aufopferung. Eine einfache Frau, immer freundlich, verständnisvoll, geduldig. Eine Frau, die anderen Frauen in Not hilft, wie es damals so schön hieß, eine Frau, die mit Seifenlauge und Gummischlauch Fehlgeburten in die Wege leitete, die dafür nicht einen Penny nahm und nicht wußte, daß ihre geschäftstüchtige Freundin, die oftmals die Kontakte herstellte, sehr wohl Geld nahm, dies aber nicht mit Vera teilte, so wie sie auch die Verantwortung nicht teilte. Denn eines Tages geht ein Eingriff schief, ein junges Mädchen kommt fast zu Tode, und damit tritt die Polizei auf den Plan, und Veras Welt bricht zusammen. Zwei Jahre und sechs Monate kriegt sie, wie es vor Gericht heißt, auch um andere abzuschrecken, und die Mienen der Zurückbleibenden deuten schon an, daß es schwer sein wird, nach dieser Zeit wieder zu leben wie vorher.
Einfache Geschichten haben es ja manchmal in sich, und auch hier darf man sich nicht täuschen lassen, denn Mike Leigh hat hinter der sehr ruhigen, gedämpften Fassade ein äußerst komplexes und natürlich tief beeindruckendes Drama inszeniert. Die Anfangsszenen lassen zunächst vermuten, daß er sich eindeutig auf die Seite der einfachen Menschen um Vera schlägt. Der bei ihm so häufig anzutreffende, deutlich polemische Kontrast zwischen ihrem Leben und dem der versnobten, blasierten Upper Class legt eine klare, parteiische Sichtweise nahe, und zumindest wenn es um das Thema Abtreibung geht, macht Leigh unzweideutige Aussagen: Sobald es zur ungewollten Schwangerschaft kommt, teilt sich die Welt in diejenigen, die sich einen diskreten, medizinisch und hygienisch korrekten Eingriff locker leisten können, und diejenigen, die eben nicht über die nötigen Mittel verfügen, die sich in aller Heimlichkeit, unter oft sehr riskanten und erniedrigenden Umständen irgendwelchen Pfuschern und Geschäftemachern ausliefern müssen, die oftmals ihr Leben aufs Spiel setzen und in ständiger Angst, entdeckt zu werden, weiter leben. Abtreibung ist ein extrem schambesetztes Tabuthema, mit dem auch Frauen alles andere als frei umgehen, ein gesetzlich geächtetes Verbrechen ohne die kleinste Differenzierung in Bezug auf besondere Notsituationen oder andere rechtfertigende Umstände. Frauen haben sich in das Schicksal der Mutterschaft zu fügen und damit basta – jedenfalls, sofern sie nicht aus den richtigen Kreisen stammen. Vera Drake weiß zum diese Verhältnisse, und sie hilft selbstlos und ohne Hintergedanken, nur weil ihr die Frauen leid tun. Sie weiß auch, daß ihr Handeln illegal ist, und als es soweit ist, unternimmt sie keinen Versuch, sich zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Hier ist Mike Leigh ganz auf ihrer Seite, und doch, als dann einmal ein Eingriff mißlingt und das Mädchen fast stirbt, wird auch dies nicht verharmlost. Der Richter sagt es eigentlich ganz richtig – eine Schutzbefohlene kam erheblich zu Schaden, sicherlich auch, weil die Eingriffe notwendigerweise unter hygienisch eher zweifelhaften Bedingungen stattfinden. Hier ist Vera in der Verantwortung, und Leigh entläßt sie keineswegs daraus, ebenso wie er die Polizei und die Justiz nicht als inhumanen, zynischen Männerapparat schildert, sondern durchaus verständnisvolle, fast sympathisierende Beamte zeigt, die unterscheiden können zwischen einer Verbrecherin und einer Frau wie Vera.
Mike Leigh hat einen sehr stillen, langsamen Film gemacht, einen Frauenfilm, einen Gesellschaftsfilm und einen Zeitfilm, er hat die Atmosphäre, die Moral und Denkweise dieser Zeit mit bemerkenswerter Intensität nachfühlbar gemacht, er hat Bilder gefunden, die diese Zeit ungeheuer präsent werden lassen, die Kleidung der Leute, die engen kleinen Wohnungen, die Farben, die Mischung aus Grün, Braun und Grau, der tägliche Smog im Herbst. Dem alltäglichen Miteinander der Menschen wird sehr viel Raum, gegeben, ihren gemeinsamen Mahlzeiten, ihren Wochenendvergnügen, ihren beruflichen Verrichtungen, ihren Gesprächen, ihren noch allseits lebendigen Kriegserinnerungen und ihrem Ausblick auf die Zukunft. Gerade hier erreicht der Film eine faszinierende Intimität und macht Leighs Konzept und Zuneigung ganz deutlich, ohne jemals naiv oder idyllisch und beschönigend zu werden. Denn als plötzlich die Polizei auftaucht, wird schlagartig deutlich, wie brüchig Veras Welt im Grunde ist, und daß sie einen Teil ihres Lebens auf einer Lüge aufbaut oder zumindest darauf, daß sie selbst ihrem Mann nicht die Wahrheit sagt. Und so mischt sich in dessen Reaktion neben der Entschlossenheit, zu ihr zu halten, auch eine Portion Enttäuschung und Wut, die er nicht verdrängen kann, und so mischt Leigh auch diesmal wieder das soziale mit einem ganz persönlichen Drama, wie er es von jeher getan hat.
Einfache Filme sind für den Filmemacher selbst die schwersten, glaube ich, denn er hat so wenig, mit dem er blenden oder ablenken kann, jedenfalls wenn er seriös arbeitet. Er hat nur die Substanz seiner Geschichte, er hat die Bilder und die Schauspieler. Die sind in diesem Falle wirklich außerordentlich, vor allem natürlich Imelda Staunton, die sehr im Vordergrund steht und eine in jeder Hinsicht sehr bewegende, erschütternde Darstellung gibt, und nach all den unscheinbaren Auftritten in literarischen Kostümfilmen ist dies endlich die eine Rolle, die ihre großartigen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Neben ihr brilliert aber ein ganzes Ensemble, wie so häufig bei Leigh, der ja nun keine Starfilme macht, dessen Filme aber schon so manchem Schauspieler zu Starruhm verholfen haben. Das spielt hier aber keine Rolle, denn es geht nicht um Egos sondern um das Ganze, es geht darum, was Leigh zeigen und sagen will, und das hat er einmal mehr ganz großartig hinbekommen, so daß dieser Film sicherlich nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird. (21.2.)