Der freie Wille von Matthias Glasner. BRD, 2006. Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Andre Hennicke, Manfred Zapatka, Judith Engel

   Okay, wer also einen ungezwungenen, leichtgängigen, unbeschwerten Kinoabend verbringen möchte, dem sei dringend empfohlen, diesen Film zu meiden, denn dies ist in jeder denkbaren Hinsicht schwere Kost. Sowohl inhaltlich als auch künstlerisch stellt Glasner den Zuschauer auf eine gehörige Probe, stillschweigend räumt die Menge am Schluß den Saal, erste Worte kommen wirklich nur zögernd, das ist aber normal, denn dies ist ein Film, der nachwirken möchte, der uns wahrscheinlich auch dazu bringt, spontane, emotionale Urteile später zu überdenken und vielleicht zu revidieren. Ganz und gar kein perfekter Film, das muß auch gesagt werden, aber sicher einer der spannendsten und diskussionswürdigsten des Jahres.

   Wir sehen in der ersten Szene, wie Theo als speckiger Freak in irgendeiner Großküche am Meer arbeitet, dort längere Zeit von irgendwelchen Jugendlichen genervt und gefoppt wird und schließlich ausrastet und handgreiflich wird. Er rauscht im Auto fort, überholt ein Mädchen auf einem Fahrrad, hält an, reißt das Mädchen zu Boden, zerrt es in die Dünen, verprügelt und vergewaltigt es brutal. Männer aus der Gegen suchen und finden und verprügeln ihn dann wiederum später. Eine schockierend gewalttätige Szene gleich zu Beginn, unvermittelt, ohne Einleitung, ohne Erklärung, einfach die blanke, fürchterliche Tat. Glasner etabliert hier seinen Stil, die schroffe, direkte Handkamera, der hart realistische, elliptische, kommentarlose Erzählgestus, die relative Distanz der Betrachtung, die manchmal in jähe Nähe umschlägt, die allerdings auch nicht beim Verständnis hilft und auch nichts leichter macht. In der zweiten Szene sehen wir Theo wieder, neun Jahre später und nun entschieden mehr wie Jürgen Vogel aussehend. Er hat neun Jahre Knast hinter sich (Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung in drei Fällen) mit zunehmend gelockertem Vollzug, weil man sich entschieden hat, ihn als psychisch krank und als heilungsfähig einzustufen. Er kommt dorthin, wo Deutschland am schönsten ist, nach Mülheim an der Ruhr, in eine WG mit lauter Jungs in einer ähnlichen Lage und er kriegt einen Job in einer Druckerei, weil er im Knast eine Druckerlehre gemacht hat. Der Chef der Druckerei ist Manfred Zapatka und dessen Tochter Nettie lernt Theo im Lauf der Zeit kennen. Von nun an läuft die Erzählung praktisch zweigleisig: Wir lernen auch Nettie kennen, ihr inzestuöses und hochgradig belastetes Verhältnis zum Mißbrauchsvater, ihr Ausbruchsversuch in die neue Wohnung, ihre Orientierungsversuche im neuen Job, die Zeit in Zeebrugge/Belgien in einer Schokoladenfabrik, ihrer langsame aber stetige Entwicklung hin zu mehr Eigenständigkeit, Stärke, Selbstvertrauen. Sie schafft es gar, den Kontakt zum Vater für einige Zeit ganz abzubrechen. Und dann Theo: Äußerlich verläuft das Leben unauffällig, doch er ist einsam, isoliert, verängstigt, weil er spürt, daß die Dämonen noch in ihm sind und langsam wieder aufsteigen. Er nähert sich Frauen, wird abgewiesen, verfolgt sie, steigt sogar einmal in ihre Wohnung ein, doch widersteht er dort noch dem Drang. Er trainiert besessen Kampfsport, macht sich stark und fit, und er läßt sich auf eine Beziehung mit Nettie ein, die zu funktionieren scheint, auch wenn es schwierig ist, und zwar für beide, überhaupt irgendeine Form von Nähe oder gar Vertrauen aufzubauen. Doch dann unterliegt Theo wieder dem Trieb: In einer Tiefgarage überfällt er eine Frau genauso grausam wie früher und sein Leben bricht erneut auseinander. Nettie, die die Wahrheit erst jetzt erfährt, kämpft mit wilder Verzweiflung, versucht, eines der früheren Opfer Theos zu kontaktieren, was von Anfang an schief läuft und in einer ziemlich drastischen Szene auf dem Damenklo gipfelt, und reist ihm nach Berlin und auch an die Ostsee nach. Theo aber läßt sie nicht mehr an sich heran – hilflos schreiend sieht sie zu, wie er sich die Pulsadern öffnet, und dann verblutet er in ihren Armen.

   Dieser Schock, so wie auch die schmerzhaft krassen Gewaltszenen, schlagen einem natürlich mächtig auf den Magen, doch wäre es total verfehlt, Glasner bloße Sensationsmache und Spekulation vorzuwerfen, denn was uns fast noch viel mehr an die Nieren geht, ist die Anhäufung menschlichen Dramas in diesem Film: Theos Drama, Netties Drama, jedes für sich genommen bereits reichlich genug für einen Film, doch zusammen genommen und in diesem Miteinander praktisch kumulierend geht das schon sehr an die Grenzen dessen, was man verarbeiten kann. Hier helfen allerdings die beiden Hauptdarsteller ganz entscheidend mit, denn Jürgen Vogel und  Sabine Timoteo spielen fast unglaublich gut und intensiv, ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit und mit einer Bereitschaft, sich selbst auszuliefern und preiszugeben, die wirklich selten ist und die diesem Film absolute menschliche Glaubwürdigkeit und auch Würde gibt. Glasner balanciert eh schon auf einem recht schmalen Grat, doch ohne solche Darsteller hätte ihm das Projekt leicht zu einem zynischen Machwerk geraten können, doch das ist es wahrlich nicht geworden. Vogel macht den inneren Kampf Theos gegen seine Triebe beklemmend deutlich – einerseits ein brutales Monster, das seinen ungerichteten Haß, seine lang aufgestauten Aggressionen an Frauen ausrichtet. Die vielen Masturbationsszenen werden immer verbissener, immer gewalttätiger, man spürt, wie es sich dramatisch in ihm anstaut, nach einem Ventil sucht und wir erleben seine verzweifelten Versuche, sich der Entladung zu erwehren. Andererseits ein ungelenker, einsamer, schüchterner Typ, der zutiefst verstört und verunsichert ist, kaum kommunizieren oder sich sicher in der Öffentlichkeit bewegen kann und sich vorwiegend über körperliche Signale artikuliert. Glasner baut eine eigentümliche und für mich unverständliche Ungleichgewichtigkeit in die Erzählung ein, indem er für Theos Defekte keinerlei Erklärung anbietet und uns aus der Biographie überhaupt nichts berichtet, während wir Netties familiären Hintergrund beispielhaft deutlich geschildert bekommen. Der seelische und wahrscheinlich (obwohl wir es nicht direkt zu sehen bekommen) früher auch physische Mißbrauch durch ihren Vater ist so fürchterlich anschaulich und realistisch, daß wir alle ihre Angst, ihre Beziehungsprobleme, ihr zerstörtes Selbstwertgefühl augenblicklich nachvollziehen können. Alle Szenen mit Manfred Zapatka sind schrecklich und fast kaum zu ertragen – natürlich spielt der Mann wie immer grandios, doch habe ich das auch überall im Publikum gespürt, und in mir selbst sowieso: Diese Szenen sind einfach zuviel, sie haben mich persönlich emotional überfordert, denn ich war mit Theo und Nettie so sehr beschäftigt, daß ich mich mit diesem Wahnsinnsvater nicht auch noch auseinandersetzen konnte – schlichtweg eine Baustelle zuviel und wiederum Stoff für einen ganzen eigenen Film.

 

  Wie schon gesagt, der Film hat seine Mängel. Glasner überfrachtet ihn vielfach, schon rein quantitativ, denn zweidreiviertel Stunden sind reichlich viel und werden auch nicht immer angemessen ausgefüllt. Die Dramaturgie ist seltsam erratisch und unausgeglichen - auf einige Sequenzen hätte ich gut verzichten können (der ganze Anfang oder die Episode im entsetzlich öden Zeebrugge beispielsweise), nicht jede Nebenepisode hätte so ausführlich beschrieben werden müssen, so daß zwischendurch zur Anstrengung, all das Gesehene zu verkraften, auch noch die simple Anstrengung kommt, diese lange Strecke überhaupt durchzustehen. Immer allerdings gelingt es Glasner, unsere Aufmerksamkeit durch eine wunderbar gestaltete und geschriebene Szene wieder zu erwecken, und so durchläuft man ganz wie die Protagonisten eine regelrechte Achterbahn. Manchmal wird’s arg populärpsychologisch und etwas plakativ, manchmal sehr eindringlich und zärtlich und oft genug einfach niederschmetternd im menschlichen und sozialen Befund. Einer wie Theo scheint kaum eine Chance zu haben, Sicherheit und Anschluß zu bekommen, und Nettie kriecht schließlich wieder zum Papa zurück und weiß: „Ich bin Dreck.“ Dennoch ist viel Trotz in ihrem Blick, wenn sie am Schluß den toten Theo hält, und sowieso hat Sabine Timoteo gerade diesen Aspekt ganz toll herausgestellt, daß Nettie nämlich bei all ihrer Verzweiflung, ihrer Wut und ihren schlimmen Rückschlägen irgendwo in sich enorme Kraftquellen zu haben scheint, die sie schon mobilisiert hat, um Theo nicht gleich zu verlieren, um ihn nicht am Selbstmord zu hindern weil sie spürt, daß er wirklich nicht mehr leben will und kann, und die sie vielleicht auch nach seinem Tod wieder mobilisieren wird. In dem Maße, da Theo resignierter, schwächer, introvertierter wird, geht sie stärker aus sich heraus, zeigt Entschlossenheit und den Mut, ihre Gefühle herauszulassen. Solch ein eindrucksvolles zwischenmenschliches Drama bekommt man höchst selten zu sehen und trotz seiner Tücken und Macken ist dies ein aufregender, mitreißender, beklemmender und starker Film, wahrlich bestens geeignet, Kontroversen auszulösen, vielleicht auch die Betrachter wieder mal in geschlechtlich getrennte Lager zu spalten (das Publikum allerdings war sehr gemischt und friedlich), ein mutig provokativer Film, der total gegensätzliche Reaktionen rechtfertigt und in erster Linie mal zum Denken und Debattieren anregt – eine bessere Empfehlung zum Kinobesuch kann’s doch gar nicht geben, oder? (11.10.)