Separate lies (Geliebte Lügen) von Julian Fellowes. England, 2005. Emily Watson, Tom Wilkinson, Rupert Everett, Linda Bassett

   Vor zehn Jahren hätten wir vermutlich noch Anthony Hopkins in Tom Wilkinsons Rolle gesehen, und möglicherweise hätte James Ivory Regie geführt, aber niemands muß traurig sein, daß so etwas wie eine neue Generation nachgerückt ist, im Gegenteil, Freunde des typisch britischen Gesellschaftsfilms werden beglückt zur Kenntnis nehmen, daß die liebe alte Tradition noch weitergeführt wird in einem Film, der alles hat, was ein Liebhaber des Genres sich nur wünschen kann: Erlesene Darsteller, ebenso erlesene Bilder vom britischen Landleben und auch aus der Stadt, eine unaufgeregte, nichtsdestoweniger gründlich ausgefeilte, detailreiche Dramaturgie, bestens ausbalancierte, tiefgründige Charakter- und Beziehungsporträts, eine feine Prise Gesellschaftskritik, vielerorts zu erahnende Komplexitäten und Abgründe (aber wir sind ja schließlich Briten...) und eine perfekt temperierte Mischung aus Gefühl, Drama und Melancholie.

   Tom Wilkinson als der arrivierte Londoner Anwalt James, der mit seiner Frau Ann ein Anwesen in Buckinghamshire unterhält und der wohl als Musterexemplar der wohlsituierten, distinguierten, standesbewußten britischen Upper Class durchgehen könnte. Wie wir erwarten dürfen, gerät seine Existenz ins Rutschen, als die Gattin ein Verhältnis mit William, einem jüngeren Mann aus der Nachbarschaft anfängt und zudem noch einen Radfahrer mit dem Auto anfährt und ihn tödlich verletzt. Die Umstände des Unfalls werden zunächst vertuscht, doch kann James Ann zunächst nicht zurückgewinnen, obwohl sie bereits wieder mit ihm gelebt hat. Als William an Krebs stirbt, pflegt Ann ihn bis zu seinem Tod, doch ob sie danach zu James zurückkehren wird, bleibt offen.

 

   Zwischen Ehe-, Gesellschafts- und Kriminaldrama bewegt sich der vorzüglich geschriebene und getimte Film sehr gekonnt hin und her, balanciert die einzelnen Elemente äußert ausgewogen gegeneinander und verliert dabei nie den leicht herbstlichen, getragenen Grundton, der hier aber nicht für Langeweile sorgt, sondern dem Drama eine reizvoll melancholische Grundierung gibt. Der englische Originaltitel deutet das zentrale Thema im Gegensatz zu dem wie immer sinnlosen deutschen gut an (was um alles in der Welt sollen „geliebte“ Lügen sein?) : Es wird enorm viel gelogen, verheimlicht, unter der Decke gehalten, überspielt, und ein jeder hat seine/ihre ganz eigenen Motive dafür, und gerade daraus, aus der Kollision dieser Motive, resultieren viele der Konflikte. James sorgt sich vorwiegend um seinen Leumund in der City und in der Gesellschaft an sich, Ann hat einfach Angst, aus ihrem alten Gleis zu springen und läßt sich von ihrem Mann wie immer unter Druck setzen und William sind andere Menschen sowieso weitgehend egal. Die Auseinandersetzungen zwischen Ann und James sind von Verbitterung und Ausweglosigkeit gekennzeichnet und vor allem davon, daß sie viel zu lang schon einen Zustand ertragen hat, den sie eigentlich nicht mehr ertragen konnte, während er nach echt britischer Manier sehr cool und sachlich die Emotionen möglichst nicht hochkochen möchte und sich ansonsten auf seinen Job in London konzentriert. Dennoch ist er letztendlich bereit, auf sie einzugehen, sich zu ändern, um sie doch für sich zurückzugewinnen, was deutlich zeigt, daß er sie unter seiner scheinbar unberührbaren Oberfläche sehr liebt. Ann bleibt lange ein Neutrum, eher schwach und beeinflußbar, hin- und hergerissen zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern, und es dauert sehr lange, bis sie der Frau des Opfers, ihrer langjährigen Haushälterin, endlich ihre Schuld an dem Unfall offen bekennt (wenn auch für sie folgenlos) und später auch die Konsequenz aus ihren Gefühlen für William zieht. Es kommt zu einigen bemerkenswerten Szenen, den spannendsten und eindrucksvollsten des ganzen Films, als ein Polizeiinspektor, ein Schwarzer auch noch, ermittelt und zwar recht zäh und mißtrauisch, der schließlich von Ann gerufen wird, weil sie ein Geständnis ablegen möchte. Überraschenderweise wird sie aber von der Frau des Opfers geschützt, und der Inspektor sieht sich ohnmächtig vor Frust der konspirativen Gesellschaft gegenüber, einer arroganten Oberschicht, die ihm immer verschlossen und feindselig gegenüber stehen wird und der er so gern mal richtig eins reinwürgen würde, und nun, als er ganz offen erkennt, was geschehen ist, hat er dennoch keine Chance, weil ausgerechnet die Haushälterin, wie er Mitglied einer immer unterprivilegierten Klasse, sich schützend vor ihre Herrschaften stellt. „Warum tun Sie das?“ fragt er außer sich. „Sie müssen das nicht tun – keiner von denen würde das für Sie tun!“ Für mich eine Schlüsselszene des Films, eine einzige, sehr pointiert gesetzte sozialkritische Note in einem ansonsten eher privaten Drama, wunderbar realisiert, in der sich hochkonzentriert ein Themenblock der Geschichte sammelt. Das übrige, das bewußte Private, die Fragen von Verstand und Gefühl, äußerer Fassade, sozialer Verpflichtung und dem wahren Innenleben, und vor allem die Frage, ob man Gefühle nicht doch mal äußern sollte, wird von den ausgezeichneten Darstellern perfekt umgesetzt: Tom Wilkinson als archetypischer Brite, dem dann aber doch häufiger mal die stiff upper lip entgleist, Emily Watson als Frau, die zu lange in ihrer angestammten Rolle verharrt und ein etwas merkwürdig geschminkter Rupert Everett (oder ist bei ihm auch Plastikchirurgie am Werk?) als kaltschnäuzig bornierter Dandy. Filme wie dieser müssen sich auf ihre Schauspieler verlassen können, und so geschieht es auch hier und deshalb ist dies auch ein rundum gelungenes Exemplar der Zunft, für alle, die so was mögen. (9.8.)