Vers le sud (In den Süden) von Laurent Cantet. Kanada/Frankreich, 2005. Charlotte Rampling, Karen Young, Ménothy Cesar, Louise Portal, Lys Ambroise, Pierre-Jean Robert

   Eine Hotelanlage, ein Strand in der Nähe von Port-au-Prince auf Haiti, ein Land unter der Duvalier-Diktatur Ende der siebziger Jahre, weiße Touristinnen aus Nordamerika mit Geld und der Sehnsucht nach etwas Abwechslung vom Alltag und schwarze Jungs aus der Gegend ohne Geld, dafür aber mit einem jungen Körper und genug Bereitschaft, für Geld mit den älteren Damen zu schlafen. Der Regisseur Laurent Cantet möchte nicht gern, daß man im Zusammenhang mit dieser Voraussetzung von Sextourismus spricht, und sicherlich hat die Beziehung der Amerikanerinnen zu den einheimischen Haitianern auch eine andere Qualität als etwa die fetter europäischer Männer zu kleinen thailändischen Mädchen, aber unter dem Strich finde ich diesen Begriff nicht mal unangebracht, nur daß er eben eine extrem negative Assoziation auslöst. Aber diese Frauen kommen Jahr für Jahr aus Kanada, Boston oder auch Savannah/Georgia in ein Land, das für jeden sichtbar von krasser Armut und krasser politischer Gewalt beherrscht wird und sie machen sich die Armut der schönen Jungs indirekt (oder vielleicht auch ganz bewußt) zunutze. So erleben sie mit fünfundvierzig doch noch ihren ersten Orgasmus, erleben etwas aufregenderes als den tristen Ehealltag mit dem längst entfremdeten Kerl daheim, dürfen in traumhafter Strandkulisse mit jungen, attraktiven Körpern verkehren und sich selbst wieder jung und begehrenswert fühlen. Das ganze hat dabei nicht mal ausschließlich diesen brutalen Warencharakter, den man mit Sextourismus für gewöhnlich verbindet, es sind durchaus Gefühle im Spiel, nur sind diese Gefühle höchst diffus: De schwarzen Jungs würden freiwillig vermutlich nicht mit Frauen schlafen, die ihre Mütter sein könnten und nach dortigen Vorstellungen kaum schön zu nennen sind. Sie bezahlen gut und dadurch entsteht eine Bindung, die auch von Sympathie gekennzeichnet ist und deshalb über eine rein geschäftliche Transaktion hinausgeht. Die Frauen kommen hierher auf der Flucht vor der Gewöhnlichkeit, auf der Suche nach Träumen und der Realisierung ihrer lang gehegten Sehnsüchte. Doch wenn sie sagen, sie haben sich in einen der Jungs verliebt, sieht das eher nach Wunschdenken und Realitätsverlust aus, und ihre verzweifelten Versuche, einen der Typen an sich zu binden, lösen eher Befremdung und Irritation aus und offenbaren vor allem ein grundlegendes in der Auswirkung tragisches Mißverständnis, um so mehr, wenn zwei der Frauen, Brenda und Ellen, um die Liebe des begehrtesten Jungen am Strand rivalisieren. Dieser Junge, Legba, hat sich arrangiert und sich im Dunstkreis der reichen weißen Frauen ein komfortables Leben eingerichtet, allerdings auch ein in gewisser Hinsicht wurzelloses Leben, denn mit seinen eigenen Leuten hat er nicht mehr viel zu tun und das bringt ihn offenbar in ernste Schwierigkeiten, die schließlich zu seinem gewaltsamen und letztlich nicht geklärten Tod führen. Die romantisch veranlagte Brenda umwirbt ihn hartnäckig, will mehr als nur eine Urlaubsliebschaft, sie ist nach gescheiterter Ehe entschlossen, ihre Brücken hinter sich abzureißen und neu anzufangen, am liebsten mit Legba. Ellen, eine kühle Engländerin, die nun in Boston lebt, liebt Legba auch, nur verbirgt sie das konsequenter und gibt sich ironisch und herausfordernd, nimmt den Machtkampf mit giftiger Eifersucht an und steht schließlich vor den Trümmern ihrer Hoffnungen, während Brenda weiter durch die Karibik tingeln und neue Abenteuer suchen will.

    Laurent Cantet hat mir wenigen Personen und im Grunde sehr einfachen Mitteln einen Film von großartiger und höchst beeindruckender Intensität und Komplexität geschaffen. Die ruhig und stringent erzählte Handlung, die mit Brendas Ankunft in Port-au-Prince beginnt und mit Ellens Abreise ebendort endet, wird unterbrochen von Monologen der Hauptpersonen, die maßgeblich daran schuld sind, daß wir ein sehr umfassendes, tiefgründiges und vielschichtiges Bild der beteiligten Menschen aber auch der postkolonialen Szenerie im Ganzen erhalten - tiefgründig meint hier auch zu einem guten Teil abgründig. Die Motive der Frauen erscheinen auf den ersten Blick menschlich sehr nachvollziehbar und verständlich, doch andererseits hat ihre aus diesen starken Sehnsüchten erwachsene Ignoranz nicht nur einen törichten, sondern auch einen regelrecht gefährlichen Anstrich. Wie können sie ernsthaft annehmen, ihr Umgang mit Geld und die Art, wie sich einheimische Männer für sie prostituieren, hätte in einer dermaßen repressiven, reaktionären Gesellschaft wie der haitianischen keine Konsequenzen für diese Männer? Wie können sie ernsthaft von ihrem Paradies sprechen, wenn um sie herum die Tonton Macoute noch immer willkürlich drangsalieren und morden? Wie können sie ernsthaft die ganze Rassenfrage ignorieren und sich als reiche weiße Frauen ungeniert arme schwarze Jungs kaufen? Die Haitianer vor Ort reagieren auf denkbar unterschiedliche Weise. Hinter der scheinbaren Servilität und der körperlichen Zuneigung können jederzeit auch Haß und Verachtung stecken, und Brenda selbst erlebt, wie der freundliche Machismo rasch eine bedrohliche Note erhalten kann. Der umwerfende Monolog des Hotelkellners ist hier beispielhaft und illustriert in nur wenigen Minuten verblüffend plastisch zweihundert Jahre Rassenkonflikte und Kolonialerbe: Der Großvater noch betrachtete die Weißen als Tiere und strafte sie mit völliger Verachtung, und zwei Generationen später nun muß sich der Enkel der weißen Touristen unterwerfen, muß dem Götzen Dollar dienen und damit all das verleugnen, was jemals die Identität seiner Vorfahren ausmachte. Auch Legba scheint sich dieser Dinge bewußt zu sein, nur artikuliert er sie niemals so direkt. Behutsam hält er die Ladies auf Distanz, nur wenn sie ihm gar zu nahe kommen und Besitzansprüche anzumelden drohen, stößt er sie entschieden von sich. Ob er sich über mögliche Folgen seines Lebensstils im klaren ist oder nicht, bleibt offen – vielleicht genießt er dieses Leben ganz einfach, vielleicht scheint es ihm die einzige Flucht aus dem Elend zu sein und vielleicht denkt er überhaupt nicht über solche Dinge nach. So bietet der Film eine reizvolle Fülle an Möglichkeiten und Ansichten an, ohne dabei jemals belanglos oder gleichgültig zu wirken. Im Gegenteil, Cantets Regie ist äußerst feinfühlig, zugleich diskret und auch offen und deutlich, mit einem Blick für tragische und auch zärtliche Momente und mit einer brillant gelungenen Verquickung privater und politischer Geschichte. Die Hauptdarsteller sind grandios gut, Charlotte Rampling und Karen Young sind brillant besetzt und gestalten ihr Ringen um Legbas Gunst zu einem sehr menschlichen Ringen um Liebe und Aufmerksamkeit, ungeachtet der oft zickig-verletzenden oder auch einfältigen äußeren Erscheinung, und in Ménothy Cesars Darstellung konzentriert sich alles, was wir dummen Weißen jemals rätselhaft, faszinierend und auch erotisch zugleich am schwarzen Kontinent fanden – ein sehr kluges und vielsagendes Spiel mit Klischees, Wunschbildern und Wirklichkeiten.

 

   Ein Film also, der mich wirklich beschäftigt, der bewegt und anregt und so reich ist an Anstößen wie wahrlich nicht viele, ganz einfach und meisterhaft zugleich. (26.9.)