Lemming (#) von Dominik Moll. Frankreich, 2005. Laurent Lucas, Charlotte Gainsbourg, André Dussolier, Charlotte Rampling
Ein vertrautes Motiv: In den scheinbar so geordneten, harmonischen (und vielleicht auch etwas eintönigen) Privat- und Arbeitsalltag eines attraktiven, sympathischen jungen Ehepaares schleichen sich durch eins, zwei unvorhersehbare Ereignisse Disharmonie, Mißtrauen, Lüge und schließlich sogar Angst und Gewalt ein, und wenn am Ende der ursprüngliche Zustand zumindest an der Oberfläche wiederhergestellt zu sein scheint, so ahnt man doch, daß sich unter dieser Oberfläche tiefe, einheilbare Risse befinden.
Aus diesem wie gesagt vertrauten Motiv lassen sich wunderbar fiese, spannende, manipulative Psychothriller machen, und Dominik Moll ist der vielleicht bislang beste von allen gelungen, ein echtes Bravourstück eines bravourösen Regisseurs und bravouröser Darsteller. Welch hohe Kunst solch ein Projekt ist, erkennt man vor allem, wenn man all die faden, öden, vorhersehbaren Filmchen anschaut, die tagtäglich im TV serviert werden, bis zum Rand voll mit Plattheiten, Klischees, Übertreibungen. Moll braucht von all dem nichts, er erweist sich hier als ein wahrer Meister seines Fachs, der sie gut zwei Stunden perfekt nutzt, um seine Geschichte zu entwickeln. Er fängt dabei ganz ruhig in der Normalität, im Alltag an, läßt das junge Ehepaar Alain und Bénédicte Getty in der neuen Siedlung im Süden und im neuen Job ankommen, er macht Karriere, sie bleibt zuhaus, er sieht zufällig, wie der Vater gegenüber seinem Sohn eine haut, und man denkt schon, das kann den beiden wohl nie passieren. Dann lädt Alain eines Abends seinen Chef Richard Pollock mit Frau ein, und der peinliche Auftritt der beiden, ein bösartiger, haßerfüllter Ehekrieg, wirft einen langen Schatten, zumal die dunkel bebrillte, zornige Alice Pollock den jungen Leuten ein ähnliches Schicksal zu prophezeien scheint. In der Nacht noch will Alain einen verstopften Siphon in der Küche reparieren und findet im Abflußrohr ein kleines Nagetier, das später als Lemming identifiziert wird, der allerdings nur im Norden Skandinaviens vorkommt. Eigentlich nur eine kleine Irritation, doch zusammen mit dem Verhalten der Pollocks schleicht sich erstes Unbehagen ein. Die schlimmen Ereignisse kommen richtig ins Rollen, wenn Alice tags darauf (vergeblich) versucht, Alain in der Firma zu verführen und dann bei Bénédicte aufkreuzt, ihr suggeriert, Alain habe sich doch gehenlassen und sich später oben im Gästezimmer eine Kugel in den Kopf schießt. Die Saat des Mißtrauens ist damit gesät, zumal Alain seiner Frau natürlich nichts von dem Vorfall erzählt hat und damit ihren Verdacht zu bestätigen scheint. Bénédicte verhält sich immer merkwürdiger, abweisender und Alain, der sie nicht mehr wiedererkennt, verliert mehr und mehr den Halt, zumal sich auch Richard dubios und undurchsichtig gibt. Die Welt des erfolgreichen Jungingenieurs entgleist total, am Schluß stehen ein Mord, der wie ein Selbstmord ausseiht, ein toter Lemming und jede Menge unbeantworteter Fragen.
Es ist äußerst sehenswert, wie kunstvoll Moll den Spannungsbogen aufbaut, wie er die Atmosphäre verdichtet, wie er alltägliche und weniger alltägliche Dinge zu einem bedrohlichen Ganzen zusammenfügt und sehr gründlich zeigt, wie verletzlich auch eine scheinbar so intakte Beziehung wie die von Alain und Bénédicte sein kann. Hübsch langsam wird Alain (und damit auch uns, denn der Film wird von ihm erzählt) der Boden unter den Füßen entzogen, und nach einem Autounfall mit leichtem Hirntrauma scheint es endgültig nicht mehr möglich, Realität und Wahnvorstellung zu unterscheiden. Plötzlich scheint Alice durch Bénédicte zu sprechen, einmal erscheint sie ihm sogar wieder und fordert ihn auf, Richard zu ermorden, und uns krimierfahrenen Zuschauern dämmert plötzlich die ganz große Täuschung und Intrige, doch letztlich bleibt auch das unklar, und am Tag nach der Tat verhält sich Bénédicte so, als sei niemals etwas geschehen, und in völlig neutralem Ton leist sie ihm die Zeitungsnotiz vor, aus der hervorgeht, daß Alains Täuschungsmanöver gelungen ist. Dann nochmals sein Stimme im Off: Er arbeitet weiter in der Firma, Bénédicte wird schwanger und das bislang ungelöste Rätsel des Lemmings klärt sich ebenfalls ganz simpel auf.
Solch ein Film funktioniert, wenn jede Einstellung stimmt, jeder Ton, und genau das ist Dominik Moll großartig gelungen. Die tückisch schleichend kriechende Spannung, von der kunstvoll suggestiv geführten Kamera und der mit bewährten Genremotiven arbeitenden Musik vollendet transportiert, sickert tief und unheimlich in den Zuschauer ein (man spürt es deutlich an den Reaktionen), und selbst das Finale, welches man normalerweise durchaus als überzogen empfinden würde, kommt folgerichtig und stimmig daher. Die vier Hauptdarsteller sind fantastisch, vor allem Laurent Lucas und Charlotte Gainsbourg, die die unaufhaltsam entgleisende Alltäglichkeit und die zunehmende Entfremdung wunderbar verkörpern. Lange habe ich keinen so schön effektvollen und spannenden Film mehr gesehen, der fast total auf oberflächliche Effekthascherei verzichten kann, sondern sich allein aus der psychologischen Konstellation entwickelt. Hier sind auf ganzer Linie echte Könner am Werk und das macht mörderisch viel Spaß. (26.7.)