Requiem von Hans-Christian Schmid. BRD, 2005. Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Anna Blomeier, Nicholas Reinke, Jens Harzer, Walter Schmidinger
Der Schmid hat’s irgendwie raus – ob nun gefühlvolle, witzige und von Sympathie getragene Jugendfilme wie „Nach fünf im Urwald“ und „Crazy“ oder anspruchsvollerer Stoff wie “23“ und „Lichter“, immer scheint er aus seinen Stoffen das Optimum zu holen, immer findet er einen überraschenden, neuen Blick und immer findet er vor allem fantastische Schauspieler, die einen erheblichen Anteil daran haben, daß er seit zehn Jahren nun sicherlich einer der spannendsten und besten der neuen deutschen Regisseure ist.
Wie „23“ erzählt auch „Requiem“ eine im Kern wahre Geschichte, die unglaubliche Geschichte der einundzwanzigjährigen Michaela aus der schwäbischen Provinz, die zu ihrem größten Glück einen Studienplatz in Tübingen ergattert, aber immer wieder von ihrer unheilvollen Vorgeschichte eingeholt wird und schließlich daran scheitert. Unerklärliche Anfälle, die zunächst als Epilepsie interpretiert werden, werfen sie um ein Jahr zurück, machen sie zur Außenseiterin und zum Sorgenkind ihrer Eltern, rechtschaffener, sehr frommer Leute. Doch in der Familie liegt bereist ein Teil des Problems – Michaela erlebt zwar ihren Vater als verständnisvoll und durchaus solidarisch, doch ihre Mutter ist lieblos, abweisend, traut ihrer Tochter nichts zu und zeigt ihr das ganz offen. Mehrmals versucht Michaela, sich von der Enge und Rigidität des Elternhauses zu lösen, und doch muß sie immer wieder dort Zuflucht suchen. In Tübingen findet sie zwar schnell eine Freundin und sogar einen Freund, doch ihre Absencen, ihre Zustände werden bedrohlicher – sie hört Stimmen sie kann plötzlich nicht mehr beten und nicht einmal mehr das Kreuz berühren, was für sie, die ebenfalls außerordentlich dogmatisch und religiös lebt und denkt, besonders belastend ist. Sie wendet sich an zwei Priester, findet aber bei keinem der beiden Gehör, sie stürzt sich in Arbeit, bricht aber erschöpft zusammen und ist so schließlich den Eltern und den Kirchenmännern ausgeliefert, die an ihr einen schlimmen Exorzismus praktizieren, bis sie (das lesen wir allerdings erst im Nachspann) nach mehreren Versuchen an Entkräftung stirbt.
Schmid fängt die Atmosphäre der frühen Siebziger in süddeutscher Provinz glänzend ein, die Bilder, die Musik, die Ausstattung, alles paßt zusammen, und mit den Szenen einer Wallfahrt nach Italien oder dem täglichen Zusammenleben daheim im Dorf ergeben sich komplexe, eindrucksvolle Impressionen einer Religiosität, die zum einen sehr viel Kraft, Sicherheit und vor allem liebevolle Gemeinschaft vermittelt, aber gerade dann enorm anfällig ist, als Michaela abweichendes Verhalten zeigt, als sie Fragen stellt, ihre Zweifel und Ängste offenbart, als sie ganz direkt und fordernd um Hilfe ersucht. Sowohl der alte, noch eher autoritär ausgerichtete, als auch der junge, vermeintlich progressivere Pfarrer reagieren fast panisch und völlig verständnislos und speisen das verzweifelte Mädchen mit hohlen Phrasen und hilflosen Sprüchen aus ihrem großen Repertoire ab, versagen also auch dort, wo ihre Eltern und ihre neu gewonnenen Freunde erst recht nicht helfen können, obwohl sich ihre Freunde noch wirklich nach ihren Möglichkeiten bemühen. Die Mutter und der Vater scheinen auch für die beiden Seiten der Medaille zu stehen, wenn es um täglich gelebten Glauben geht: Die Mutter gebärdet sich kalt, herrisch, läßt nichts an sich heran, was ihr irgendwie fremd oder bedrohlich erscheint und toleriert zu keiner Zeit, daß Michaela sich in der Stadt entwickelt, endlich zu einem eigenständigen, erwachsenen Menschen wird, während der Vater immer zu vermitteln versucht und neben der kleinen Schwester Michaelas wichtigster Verbündeter gegen die Feindseligkeit der Mutter ist. Es gibt einpaar außerordentlich intensive und bös realistische Familienszenen, in denen Burghart Klaußner und Imogen Kogge ihre schauspielerischen Möglichkeiten großartig demonstrieren und in denen deutlich wird, wie verheerend sich familiäre Restriktionen und Konflikte auf psychisch labile Menschen auswirken können, wenn sie die psychische Labilität nicht sogar selbst hervorrufen.
Schmid macht es uns nicht leicht – bis zuletzt wissen wir nicht genau, welche Ursachen Michaelas Probleme haben, wir wissen nicht mal mit letzter Sicherheit, wie diese Probleme überhaupt aussehen. Klar ist, daß es keine billigen und einseitigen Erklärungen gibt, weder das Elternhaus noch die Religion werden leichtfertig dafür herangezogen, wir werden genauso ratlos und erschüttert mit Michaelas zum Teil äußerst erschreckenden, fast gewaltsamen Zuständen konfrontiert wie sie selbst und ihre Umwelt. Wir erleben letztlich nur einen Menschen, der dringend Hilfe benötigt, diese Hilfe aber nirgends bekommt. Seine ernorme Intensität bezieht der Film zum einen aus seiner sehr geradlinigen, schnörkellos aus der Hand gefilmten, straffen Erzählweise, die ähnlich unerbittlich voranschreitet wie Michaelas Krankheit oder wie man es nennen will, und zum anderen aus Sandra Hüllers phänomenaler Darstellung, die man in solcher Eindringlichkeit wahrlich nicht häufig zu sehen bekommt und zwar nicht nur in deutschen Produktionen. Schmid hat wieder alles richtig gemacht, den richtigen Ton gefunden, das richtige Tempo, die richtige Mischung aus Gefühl und Realismus, und so ist ein Film entstanden, der einen stark bewegt und beschäftigt, wieder mal ein herausragendes Werk aus heimischen Gefilden. (6.3.)