Snow Cake (#) von Marc Evans. Kanada/England, 2005. Alan Rickman, Sigourney Weaver, Carrie-Ann Moss, Emily Hampshire, James Allodi, Callum Keith Rennie

   Böse Zungen würden jetzt vermutlich so etwas sagen wie “Spiel den Autisten und du kriegst den Oscar” oder so, und wer ahnt, wie sehnlich sich Sigourney Weaver wahrscheinlich wünscht, endlich mal vom Image der Alienkillerin freizukommen, versteht auch, mit welcher Begeisterung sie diese Rolle hier angenommen haben wird. Sehr viel davon ist jedenfalls in ihrer Darstellung zu sehen, die genau wie einst die von Dustin Hoffman das Problem in sich trägt, dass sie eine rein technische, abgeschaute sein muß, weil ganz bestimmt niemand, der nicht selbst autistisch ist, sich voll und ganz in die Situation einleben kann. Man sieht Weavers Eifer und ihren vollen Einsatz in jeder Minute, doch wirkt ihre Vorstellung manchmal auch ein wenig forciert und steht damit in auffälligem Gegensatz zu den übrigen Schauspielern, die sehr ruhig und natürlich auftreten und maßgeblich zum allgemein sehr entspannten, intensiven Flair dieses Films beizutragen.

   Am Anfang steht ein furchtbarer Unfall: Alex nimmt fast widerwillig ein kontaktfreudiges, entwaffnend charmante junge Mädchen im Auto mit auf seiner Reise nach Winnipeg. Mit Ausdauer und Hartnäckigkeit reißt Vivienne ein wenig die Mauer ein, die der introvertierte, griesgrämig wirkende ältere Mann um sich errichtet hat, doch dann rast ein LKW in das Auto und tötet das Mädchen. Alex nimmt Kontakt zu ihrer Mutter Linda auf, die allein in einem kleinen Kaff in der kanadischen Wildnis lebt und die auf die Todesnachricht irritierend sachlich und nüchtern reagiert. Auch sie bringt Alex dazu, etwas zu tun, was er eigentlich gar nicht tun will, nämlich ein paar Tage zu bleiben, um die Beerdigung zu organisieren und in der kommenden Woche den Müll rauszubringen, weil das immer Viviennes Aufgabe war und sie, Linda, dies auf keinen Fall tun könne. Von der schönen Nachbarin Maggie erfährt Alex schließlich, dass Linda  Autistin ist und deshalb ihr Leben nach solch festen, unverrückbaren Regeln einteilen muß: Die Küche ist tabu, der Teppich darf um Himmels Willen nicht beschmutzt werden, es gibt nur ekligen Kräutertee zu trinken und so weiter. Alex ist häufig genervt, andererseits aber auch angezogen von dieser eigenartigen Frau in ihrer hermetischen Welt, in die kein tieferes Gefühl vorzudringen scheint, und so erklärt er sich bereit, zu bleiben. Er fängt eine Affäre mit Maggie an, und so wirken beide Frauen auf verschiedene Weise auf ihn ein, und auch wir erfahren langsam aber sicher etwas mehr von ihm: Von dem Sohn, dessen Existenz ihm lange Zeit nicht bekannt war, den er nach zwanzig Jahren treffen wollte, der dann von einem Autofahrer totgefahren wurde, und davon ,dass er diesen Autofahrer in rasender Wut getötet und dafür im Gefängnis gesessen hat, und nun will er eben in Winnipeg die Mutter dieses Sohnes besuchen. Das ist auch kein Problem für Maggie, denn die ist eher an kurzen, leidenschaftlichen Beziehungen interessiert und will sowieso nicht, dass er bleibt, und auch Linda verabschiedet sich höflich von ihm, ohne dass er irgendwelche sichtbaren Spuren hinterlassen hätte. Was aber nicht für sein Abschiedsgeschenk an sie gilt, denn im Tiefkühlfach hat er ihr eine Schneetorte hinterlassen, die sie mit besonderem Genuss verspeist, denn wie sie ihm zuvor mal geschildert hat, ist Schneetorte essen noch viel besser als ein Orgasmus.

   Komisches und Trauriges liegen nahe beieinander und überlagern sich häufig in diesem sehr schönen und intensiven Psychostück um eine kleine Handvoll Menschen irgendwo draußen im kanadischen Endlosland. Die Begegnungen dieser Leute sind oft von Mißverständnissen und ebenso auch von tiefer Zuneigung und Zärtlichkeit gekennzeichnet, und allgemein wird mit viel Gefühl demonstriert, wie stark Beziehungen und zwischenmenschliche Kontakte wirken können. Das gilt besonders für Alex, der eigentlich ziemlich kontaktgestört zu sein scheint, wenn auch auf andere Weise als Linda, und der sehr von den unterschiedlichen Beziehungen profitiert, die die Frauen zu ihm aufbauen. Die unverblümte und sehr direkte Linda richtet ihm einen Freiraum ein, in dessen festgefügtem Regelwerk er sich gut und sicher bewegen kann, während Maggie ihm Wärme, Nähe und Vertrauen gibt und ihn dazu bringt, sich endlich wieder zu öffnen und mitzuteilen, wozu er ja im Gegensatz zu Linda die Möglichkeit hat, weil er gesund ist. Der Umgang mit Lindas Autismus im Film istvöllig natürlich und frei von jeglichem Kitsch à la “Rain Man”. Manche Situationen sind wirklich komisch, vor allem wenn Linda ihre Umgebung durch ihre unverblümte und dabei recht ehrliche Art vor den Kopf stößt und Konventionen locker über den Haufen rennt, manche Situationen sind auch bestürzend und traurig, wenn man sieht, wie sie vielleicht doch um ein Gefühl ringt, eine Reaktion und dann doch nichts kommt. Der Autist wird hier auch nicht in der gleichen Weise wie in “Rain Man” instrumentalisiert, um aus dem eigentlich gesunden, aber emotional doch retardierten Gegenüber einen besseren Menschen zu machen, denn auch wenn Linda Alex in gewisser Weise fordert, überrascht und manchmal auch aus der Reserve lockt, so ist es doch längst nicht allein ihr Einfluß, der ihm hilft, wieder näher zu sich selbst zu finden. Und was ich eingangs über Sigourney Weaver gesagt habe, soll nicht bedeuten, sie sei als Linda grundsätzlich schlecht oder ziehe nur die übliche Hollywoodstarshow ab, denn sie hat durchaus viele sehr gute Momente und es ist einfach schön, sie wirklich mal in einer ganz anderen Rolle zu sehen, nur ist ihre Darstellung vielleicht nicht ganz so gut ausbalanciert wie die der anderen. Was dem durchweg positiven Gesamteindruck dieses Films keinen Abbruch tut - ohne Firlefanz oder großes Drama wird in schönen, poetischen Bildern eine eindringliche, feinfühlige Beziehungsgeschichte erzählt, ein bißchen wie in Atom Egoyans “Das süße Jenseits”, und wahrscheinlich muß sowas generell in Kanada gemacht werden, damit die üblichen Hollywoodklischees außen vor bleiben können. (6.11.)