Sommer ´04 von Stefan Krohmer. BRD, 2006. Martina Gedeck, Robert Seeliger, Svea Lohde, Peter Davor, Lucas Kotaranin
Sommer ´04 an der Schlei, das ist ein Ensemblestück für fünf Personen in folgender Ausgangskonstellation: Vater André und Mutter Mirjam fahren zum Segeln in den umgebauten reetgedeckten Bauernhof an die Schlei, Söhnchen Nils kommt mit Freundin Livia nach.
Die beiden Kids lernen beim ersten Törn den just aus den USA nach Deutschland zurückgekehrten Bill kennen. Das ist es, und von dort gehen die Verschiebungen der von vornherein schon äußerst empfindlichen Balance los: Livia, ein zwölfjähriges frühreifes Früchtchen quatscht von offenen Beziehungen und bändelt scheinbar mit Bill an. Nils, ein stockig vor sich hinpubertierender fünfzehnjähriger Couchhocker läßt es gleichgültig geschehen, die Eltern jedoch, vor allem Mirjam, reagieren irritiert, zum einen weil sie sich für die ständig ausbleibende Livia vor deren Eltern verantwortlich fühlen, zum anderen, weil sie Livias Verhalten nicht einordnen können. Mirjam nimmt Kontakt zu Bill auf, will ihn an seine Verantwortung als erwachsener Mann erinnern, verliebt sich aber selbst in ihn. Bill schläft ein paar Mal mit ihr, will sich dann aber trennen, weil er doch in Livia verliebt ist. Mirjam will Livia zur Rede stellen und nimmt sie mit aufs Boot. Draußen auf dem Meer kriegt Livia versehentlich den Segelbaum an den Kopf und stirbt an den Folgen des Unfalls. André schildert im Krankenhaus den Hergang nicht korrekt, um Mirjam zu schützen, die schneller ans Ufer hätte zurücksegeln müssen. Nils will die Wahrheit sagen, läßt sich aber vom Vater davon abhalten. Mirjam geht mit Bill in die Staaten, und nach zwei Jahren treffen sie sich einmal mit Livias Eltern. Livias Mutter liest einen Brief ihrer Tochter vor, aus dem hervorgeht, daß das Mädchen die Beziehung zwischen Mirjam und Bill bewußt angebahnt hat. Mirjam und Bill erklären, daß sie glücklich sind und damit Livias Vorhaben nicht umsonst war.
Wie schon in „Sie haben Knut“ erweisen sich Krohmer und sein Autor Daniel Nocke als Meister in Sachen Ensemblestück. Diesmal haben sie die Gruppe ein wenig kleiner und übersichtlicher gemacht, wodurch der Film eigentlich noch intensiver und spannender geworden ist als sein Vorgänger, ein meisterhaftes Psycho- und Erotikdrama ohne einen einzigen falschen oder lauten Ton. Ausgehend von einem ganz realistischen Setting entwickeln sich mal höchst subtile und manchmal auch gar nicht so subtile Spielchen und Kämpfchen um Macht und Gefühl. Es geht um sexuelle Rivalität, um die verschiedenen Generationen, um Selbstverwirklichung, um Lüge und Wahrheit, um die Frage, was eine Ehe sein soll und wie verscheiden doch die beiden Geschlechter mit solchen Dingen umgehen: Die Frauen sind praktisch dauernd auf Empfang gestellt, hören jede einzelne Nachricht nur auf dem Beziehungsohr (um mal diese Theorie zu bemühen) und senden ihrerseits pausenlos Beziehungsbotschaften aus. Die Männer treiben neben ihnen her, mal gleichmütig und cool, mal einfach nur hilflos und stumpf, und wie immer überschauen sie absolut nicht, welche Tragweite die Ereignisse für ihre Frauen und damit indirekt auch für sie haben. André und Mirjam mögen vielleicht nicht hundertprozentig zueinander passen, dennoch führen sie sicherlich eine gute, stabile Beziehung und es ist durchaus nachvollziehbar, was sie zueinander hinzieht. Livia und Nils dagegen sind vollkommen verschieden und es scheint ausgeschlossen, daß sie sich jemals wirklich verstehen werden, denn während er träg und pampig vor der Glotze hockt, dem Mädchen in keiner Form gewachsen oder ein ebenbürtiger Partner, ist sie unterwegs, ständig hungrig und ständig auf der Suche nach Erfahrungen und Kicks. Und obwohl ihre Sprüche irgendwie hohl wirken und ihre Reife allenfalls behauptet, stellt sie für alle anderen eine Herausforderung dar, auf die sie irgendwie reagieren: Bill, der viel von den oberflächlichen, gefühlsarmen Amerikanern fabuliert und sich selbst nicht sehr viel anders verhält, schwankt ständig zwischen den beiden Frauen und läßt diese letztlich über ihn entscheiden. Seine entspannte aber auch passive Haltung kontrastiert schön mit André, der zumindest auf intellektueller Ebene gleich auf Konfrontation schaltet und Bill bei dessen erstem Besuch für seine ganz normal seichte Konversation mit unangebrachtem Sarkasmus bestraft. Mirjam bricht aus der Ehe aus, weiß der Geier warum, und der Film verweigert uns auch eine genaue Auskunft über ihre Motive – vielleicht erotische Anziehung, vielleicht die Sehnsucht nach dem Abenteuer, vielleicht lang aufgestauter, latenter Frust im Alltag mit dem eher kopfgesteuerten André. Dessen allzu bevormundende Beschützerhaltung nach dem Segelunfall jedenfalls scheint das Faß zum Überlaufen zu bringen und sie buchstäblich aus dem Haus zu treiben. Nils seinerseits wächst ganz unerwartet an den Ereignissen, vor allem an Livias Tod, nach dem er sich plötzlich sehr viel reifer und entschlossener zeigt, vor allem entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen und sich nicht immer von den intellektuell dominanten Eltern dreinreden zu lassen. Seine zickigen Auseinandersetzungen mit den Eltern, vor allem die ewigen Konkurrenzkämpfchen mit dem auch hier gern dominanten Vater sind so sehr dem Leben abgeschaut wie vieles in diesem Film, der vor allem atmosphärisch bestechend ist. Die Sommerfrische im Norden, die langen lauen Abende, das deutlich spürbar Feriengefühl bilden eine wunderbare Grundierung für die sehr komplexen und vielgestaltigen zwischenmenschlichen Dinge, die fast von Anfang an für Dauerspannung sorgen, vor allem deshalb, weil uns selbst halt vieles so bekannt ist. Krohmer erzählt zeitlich sehr dicht und konzentriert, mutet uns aber ausgerechnet an zwei entscheidenden Punkten überraschende Zeitsprünge zu, fast grobe Ellipsen, die uns überrumpeln und uns in eine neue Situation hineinwerfen: Livias Tod und Nils’ Trauer werden in einem einzigen knappen Satz vom Krankenhausarzt zusammengefaßt, und die zwei Jahre, die zwischen dem Sommer 04 und dem Treffen Mirjams und Bills mit Livias Eltern liegen, ergeben sich auch nur unvermittelt aus dem Gespräch der vier. Diese jähen Brüche verunsichern den Zuschauer ziemlich und machen ihm klar, daß hier eigenwillige, autonome Menschen Entscheidungen treffen und Veränderungen durchmachen, die sich häufig dem Verständnis und der Kontrolle der anderen entziehen. Der Zuschauer hat oft wenig Zeit, eine Meinung zu diesen Entscheidungen zu treffen und er wird obendrein oftmals bewogen, diese Haltung zu revidieren und zu verändern, weil sich ständig Konstellationen und Emotionen verändern.
Alles in allem ein brillant gestalteter, sehr schön fotografiert und vor allem ganz toll gespielter Film, der mir deswegen so gut gefällt, weil er seine Spannung aus einfachen, alltäglichen Begebenheiten entwickelt und durchgängig auf schrille Töne und überzogene Dramatik verzichtet, und damit sehr eindrucksvoll zeigt, daß man maximale Wirkung oft mit kleinem Aufwand herstellen kann und dazu überhaupt keine aufwändige, aufgeblähte Story benötigt. (29.10.)