United 93 (Flug 93) von Paul Greengrass. USA/England, 2006. David Allan Basche, Richard Berkins, Susan Blommaert, Ray Charleson, Christian Clemenson, Khalid Abdalla
Paul Greengrass hat’s richtig gemacht: Seinen Irlandfilm hat – obwohl in Berlin einst preisgekrönt – so gut wie kein Schwein in der freien Welt sehen können (wenigstens nicht im Kino!), also hat er sich an ein Thema herangemacht, das ihm die volle mediale Aufmerksamkeit garantiert, nämlich die Terroranschläge vom 11.9.2001. Damit will ich jetzt aber nicht unterstellen, es handele sich hier um ein rein spekulatives, kommerziell kalkuliertes oder gar blank patriotisches Produkt, denn nichts von alledem trifft zu. Eine geradezu empörend abwegige Kritik bei den Evangelen rückt den Film zwar in die Nähe des klassisch-pathetischen Hollywoodheldenkinos, aber das ist total daneben und obendrein übler Bullshit, den ich dieser ansonsten recht klarsichtigen Zeitschrift nicht zugetraut hätte. Natürlich operiert Greengrass mit Emotionen, aber sag mir mal einer, wie er das bei seiner Geschichte hätte vermeiden sollen? Er hat für meinen Geschmack, um das auch ganz deutlich zu sagen, einen großartigen Film gemacht, einen der klar besten des Jahres bisher.
Flug United Airlines 93 von New York nach San Francisco ist einer von vieren, die an diesem 11.9. von arabischen Terroristen in ihre Gewalt gebracht und gegen bestimmte Gebäude dirigiert werden. Drei Maschinen erreichen ihre Ziele: Zwei landen in den Türmen des World Trade Center und einer im Pentagon. Die vierte soll das Weiße Haus treffen, doch sie stürzt vorher auf einem Feld irgendwo in Pennsylvania ab und niemand überlebt. Greengrass schildert diesen Flug und er hat wenig Probleme mit der Authentizität, denn das Handyzeitalter bringt es mit sich, daß fast jeder zweite Fluggast seine schrecklichen Erlebnisse den Familien zuhause erzählen konnte, und so dürften die Ereignisse bis zum Ende überliefert sein: Wie die vier Terroristen mit Messern und einer Bombenattrappe und brutalster Gewalt das Flugzeug an sich reißen, die Piloten, eine Flugbegleiterin und einen Passagier kaltblütig abstechen, und wie unter den Passagieren zwischen dem Entsetzen und der Angst langsam die Einsicht dämmert, daß man es hier mit Selbstmordattentätern zu tun hat, die kein Lösegeld erpressen, sondern die mitsamt der Maschine in den Tod rasen wollen. Bestätigt wird ihnen das durch die Gespräch mit den Angehörigen, die ihnen von den Explosionen in New York und Washington erzählen, und wenn schließlich ein paar Männer den Kampf aufnehmen dann keinesfalls, wie das Arschloch vom epd behauptet, um Amerika oder am besten gleich die ganze westliche Welt zu retten, sondern einzig und allein ihr eigenes Leben, denn an etwas anderes können sie natürlich gar nicht denken. Also nochmal (zum letzten Mal, versprochen): Diesen Film Heldenverklärung oder Hollywoodkitsch vorzuwerfen ist vollkommener Unsinn und erfüllt eigentlich den Tatbestand der üblen Nachrede. Aber jetzt genug davon, ich habe mich beruhigt.
Greengrass hält sich fast minutiös an die Realzeit vom Start der UA 93 bis zum furchtbaren Ende. Er schneidet hin und her zwischen den Ereignissen im Flugzeug und Szenen aus den verschiedenen Flugleitstellen in New York, Boston oder Cleveland und einer Armeezentrale, von wo aus ebenfalls noch Aktionen geleitet werden sollen. In zum Teil kaum faßbarer Intensität führt er das unbeschreibliche Chaos vor, das in diesen wahnwitzigen Minuten und Stunden geherrscht haben muß: Der erste gestörte Funkkontakt zu einem Flugzeug, der erste merkwürdige Funkspruch, der erste Verdacht einer Entführung, das erste Einschalten anderer Stellen. Dann verdichten sich die Geschehnisse dramatisch: Das Flugzeug nimmt einen gefährlichen Kurs, gerät außer Kontrolle, verschwindet vom Bildschirm und schon parallel dazu reagieren auch andere maschinen nicht mehr auf Anruf von der Leitstelle. Dann die erste Explosion im WTC, und zuerst denkt man noch an eine Sportmaschine, doch dann sieht jeder, die Zerstörung ist viel zu groß, das war die Verkehrsmaschine und plötzlich bricht langsam aber sicher Panik aus, als die zuständigen Menschen merken, daß sie die Situation nicht unter Kontrolle haben. Bis zu vier, fünf Maschinen gleichzeitig scheinen in der Gewalt von Terroristen zu sein, dann der Einschlag in den anderen Turm, der schon live im TV zu sehen ist, und die Explosion im Pentagon, und noch immer hat niemand genauere Informationen, niemand hat die letztendliche Befugnis, die Armee rudert hilflos herum, will Abfangjäger losschicken, erhält keine Erlaubnis, macht’s dann trotzdem, hat aber keine Direktive, wie sich denn die Piloten verhalten, das heißt, ob sie tatsächlich eine entführte Passagiermaschine abschießen sollen oder nicht. Niemand, so scheint es, kann angesichts der ständig eskalierenden und total unvorhersehbaren Ereignisse die Verantwortung übernehmen, es wird pausenlos telefoniert, gerufen und gebrüllt, aber bis zuletzt können sich die Behörden zu keiner einzigen effektiven Aktion aufraffen, sie sind grenzenlos überfordert. Greengrass verurteilt sie deswegen nicht – wir verstehen, daß jeder in dieser Lage genauso hilflos wäre – er zeigt nur und bedient sich eines streckenweise beinahe dokumentarischen Stils. Viele Akteure von damals treten als sie selbst in den Film auf, Barry Ackroyds Kamera rast und taumelt mit ihnen durch die Schauplätze, und es gibt nur ganz wenige Szenen, in denen man spürt, daß Greengrass hier einen emotionalisierenden Akzent gesetzt hat. Eigentlich aber hat er das gar nicht nötig, denn die Emotionen teilen sich uns ungefiltert und mit voller Wucht mit: Entsetzen, Panik, schiere Todesangst und schließlich die letzte, wilde Verzweiflung, in der die Männer im Flugzeug alles zusammenraffen, was irgendwie als Waffe durchgehen könnte und schließlich die Terroristen überwältigen, die ihrerseits schon gemerkt haben, daß die Stimmung für sie bedrohlich wird und daß sie ihre Mission wahrscheinlich nicht vollenden können. Mit letztem selbstmörderischen Reflex steuert der arabische Pilot die Maschine gen Boden und obwohl die Passagiere sie in einem chaotischen und wüsten Kampf überwältigen, schaffen sie es nicht mehr, sie wieder hochzureißen, und dann wird die Leinwand einfach dunkel, und in diesem Dunkel habe ich wirklich erschüttert gesessen. Das ist ein Film, der einem ordentlich in den Magen fährt und den ich ganz sicher nicht so schnell vergessen werde. Er ist zigmal dramatischer, spannender, mitreißender und aufwühlender, als all die teuren Großprodukte, die sich eben gerade darum so eifrig bemühen, er ist tatsächlich einer der spannendsten Filme, die ich je gesehen habe, obwohl der Begriff „spannend“ die Sache gar nicht so richtig trifft, denn so hört es sich an, als handele es sich einfach um einen guten Krimi oder dergleichen. Greengrass nutzt die authentische Zeitspanne und den Wechsel der wenigen Schauplätze sehr effektiv, zumal er diese Schauplätze ungemein intensiv beschreibt, all die Hitze, die Hektik, die fieberhafte Suche nach einem Muster, nach einer Antwort, nach irgend einem Anhaltspunkt, der verstehen hilft, was vielleicht als nächstes geschehen könnte und was überhaupt geschieht und warum. Die beispiellose Einmaligkeit des Anschlags wird noch einmal deutlich – so etwas war noch nie zuvor geschehen und offenbar hatte sich niemand ein solches Szenarium auch nur ansatzweise ausmalen können, und obgleich sich die Verantwortlichen - alles erfahrene Männer - sichtlich um professionelles, besonnenes Handeln bemühen, sieht man, spürt man, wie nah am Rand des Nervenzusammenbruchs sich viele von ihnen bewegen. Und parallel zu der Hilflosigkeit in den Kommandozentralen sieht man, wie unter den Passagieren mit steigender Informationsdichte die Erkenntnis wächst, daß es hier buchstäblich um Leben und Tod geht und daß man sich doch irgendwie zur Wehr setzen, es wenigstens versuchen muß. Durch die im Grunde sehr einfache, direkte, ganz ungekünstelte Erzählweise erzielt Greengrass eine Dramatik und Intensität, der sich wohl kein Zuschauer entziehen kann, ich jedenfalls konnte es zu keiner Minute, und für mich spielt es bei der Beurteilung des Films auch keine Rolle, wie ich im Nachhinein diesen 1. September sehe (oder vor allem die Reaktion der Amerikaner darauf) – er ist den Opfern dieses Tages gewidmet, das ist eine legitime Geste, und er zeigt, wie der Terror ein Land buchstäblich überwältigt. Was dieses Land dann in Folge dieser Ereignisse wiederum anderen Menschen zugefügt hat, müßte in Zukunft Stoff für viele andere Filme abgeben, nur dürften die höchstwahrscheinlich nicht in den USA gedreht werden. (1.6.)