Ben X (#) von Nic Balthazar. Belgien/Niederlande, 2007. Greg Timmermans, Laura Verlinden, Marijke Pinoy, Pol Goossen, Titus de Voogdt, Maarten Claeyssens
Der Film hat mich zu Beginn ziemlich auf die falsche Fährte gelockt, hatte ich in den ersten zehn Minuten doch den Eindruck, es gehe um einen Schüler, der sich selbst und seinen Realitätsbezug im Cyberspace verliert und sein Leben lieber als virtueller Held verwirklicht denn als ganz normaler Typ zwischen Familie und Schule. Zunehmend wird jedoch deutlich, dass Ben ganz andere Probleme hat. Die Mutter erklärt statt seiner, dass er an einer abgeschwächten Form von Autismus leidet (Asperger-Syndrom oder so ähnlich) und kaum Zugang zu seiner Umwelt findet. Er bemüht sich, den Appellen seiner unendlich leidensfähigen Mutter Folge zu leisten, ruhig zu bleiben, nicht aufzufallen, zu funktionieren, doch haben ihn die unbarmherzigen Mitschüler längst als ideales Mobbingopfer entdeckt, denn Ben kann sich nicht wehren, und so kursieren bald Filme vom halbnackten, hilflosen Ben umringt von johlenden Teenies im Netz, der natürlich zur Schmach der Frau Mama, die allein mit Ben und dessen kleinen Bruder lebt und nach Kräften bemüht ist, den anstrengenden Alltag zu wuppen. Ben flüchtet sich zwischendurch immer wieder in die virtuelle Welt des Kampfspiels, doch bezieht er daraus zunächst weder Hilfe noch Schutz oder Trost, erst als ihm eines Tages seine Spielpartnerin Scarlite auch im wirklichen Leben erscheint, scheinen sich Wege aus der Misere zu öffnen. Mit einem inszenierten Selbstmord und einer spektakulären Trauerfeier will man allen Mitschülern und Lehrern gründlich eins auswischen, und nachdem dies gelungen ist, sieht es zumindest so aus, als könne Ben erstmalig Anschluss an ein halbwegs „normales“ Leben finden.
In einigen Rezensionen scheinen die Verfasser anzunehmen, die Scarlite geselle sich tatsächlich in Fleisch und Blut zu Ben, doch das scheint mir ein grundsätzliches Missverständnis zu sein. Zwar kontaktiert Ben sie online, verabredet ein Date und nähert sich ihr auch von fern, doch findet er nicht den Mut, sie anzusprechen und sie fährt mit dem Zug davon. Ihre weiteren Begegnungen und gemeinsamen Unternehmungen, das wird ziemlich deutlich, wie ich finde, sind Produkte seiner Imagination, denn in einigen Szenen erlaubt uns der Regisseur kurz einen Blick außerhalb der Perspektive Bens; und dort ist Scarlite gar nicht zu sehen, sondern Ben spricht mit der Luft, was von den anderen allerdings als eine Manifestation seiner Krankheit gedeutet wird. Sein Realitätsverlust ist nicht in erster Linie Folge seiner Videospielerei sondern des Asperger-Syndroms – keine Frage, das Spiel, das er jeden Morgen sehr früh noch vor der Schule spielt, ist für ihn eine Art Rückzugmöglichkeit, ein Raum für Schutz und Tost und dem Gefühl von Stärke, doch kann er diese Erfahrung nie in den Alltag hinübernehmen, wie man es vielleicht aus Hollywoodfilmen kennt. Er ruft in bestimmten Momenten zwar Bilder und Assoziationen ab, doch können sie ihm nicht als Hilfe oder sonst wie dienen. Zum Teil fand ich dieses bruchlose Nebeneinander der natürlichen, d.h. krankheitsbedingten, und der medienbedingten Ursachen für Bens Isolation und Verständigungsstörung ein wenig irritierend, andererseits aber macht es sich Nic Balthazar somit auch nicht zu einfach und verteufelt schlicht alle Computerspiele in Bausch und Bogen, sondern er bietet ein komplexere, vielschichtigere Darstellung, der sein Film auch sonst jederzeit gerecht wird. Am stärksten haben mich die Szenen beeindruckt, in denen Ben direkt von seinen Mitschülern attackiert wird. Hier stellt sich auf bedrückend realistische Weise eine Gesellschaft vor, deren Liberalität und Toleranz lediglich behauptet oder durch den scheinbar schrankenlosen Kommunikationsrausch trügerisch suggeriert wird, die sich aber hinter der hippen Fassade mit all ihren Repressionen, Zwängen und vor allem Aggressionen offenbart, denn gerade diese ungelebten, unbearbeiteten Aggressionen sind es wohl, die sich in aller Wucht gegen Ben richten, weil der schlicht schwächste, verwundbarste Glied in der Kette ist. Und im Zeitalter schrankenloser Kommunikation bleiben Demütigungen und Gewalt nicht im kleinen Kreis, sondern werden gleich als Livevideo ins Netz gestellt, um dort den Beifall anderer Gleichgesinnten zu ernten und natürlich Nachahmer zu inspirieren. Balthazar formuliert in diesen Momenten eine deutliche Aussage gegen Auswüchse dieser Art und gleichzeitig ein Plädoyer für mehr Toleranz und Frieden im Miteinander. Wer immer noch glaubt, das sei heutzutage uncool oder überflüssig, der lebt wahrscheinlich seit langem auf dem Mond.
Künstlerisch ist dies zum Teil ziemlich eindrucksvoll gelungen. Die eingespielten Interviewszenen mit Beteiligten (der Mutter, dem Vater, einem Lehrer) sind meines Erachtens nach überflüssig, denn angesichts der Aktualität und Gültigkeit seiner Themen braucht der Film diesen pseudodokumentarischen Gestus wahrlich nicht. Sehr eindrucksvoll ist hingegen die Auseinandersetzung mit Bens Autismus und wie schwer es für ihn ist, im „normalen“ Leben Anschluss zu finden und zu halten. Jenseits populärer, publikumswirksamer Darstellungen findet Balthazar eine sehr moderne und zugleich einfühlsame Bildsprache, die geschickt Elemente zeitgemäßer Videoästhetik übernimmt und vor allem Bens vielschichtige Wahrnehmung intensiv nachfühlbar macht. Die Schauspieler sind diesem anspruchsvollen Konzept absolut gewachsen, und wer mit der oft etwas stürmischen Optik und dem Nonstopsoundtrack kein Problem hat, wird einen sehr engagierten und aussagestarken Film vorfinden, der sicherlich in verschiedenen Generationen sein Publikum finden kann. (14.5.)