La sconosciuta (Die Unbekannte) von Giuseppe Tornatore. Italien, 2007. Kseniya Rappoport, Michele Placido, Clara Dossena, Claudia Gerini, Pierfrancesco Favino, Margherita Buy, Piera degli Espositi, Angela Molina, Alessandro Haber, Pino Calabrese
Und noch mal die italienische Oper, nur diesmal ungleich düsterer, dunkler, abgründiger. Grausame Gewalt und Erniedrigung auf der einen, Sehnsucht und Liebe auf der anderen Seite, und von allem bitte das volle Buffet. Nicht für weich Besaitete, nicht für Leute, die ihren Kopf partout nicht abschalten können (oder wollen) und auch nicht für Leute, die’s gern straight und übersichtlich haben. Man muß sich schon darauf einlassen und das mag gelegentlich eine gewisse Überwindung kosten, wenn das aber klappt, steht ein Kinofilm ins Haus, den man sicherlich aus vielen Gründen nicht so schnell vergessen wird, mir jedenfalls wird das so gehen.
Der Autor/Regisseur Giuseppe Tornatore war für mich bislang nicht gerade erste Wahl. „Nuovo cinema paradiso“ nervte mich vor zwanzig Jahren durch die aufdringliche Kitschästhetik und die ebenso aufdringlich weichgespülten “Gefühle”, und was ich hernach über seine weiteren Erzeugnisse las, überzeugte mich nicht gerade davon, dass er seinen Stil geändert hat. Hier nun stellt er seine Vorlieben und Eigenarten in den Dienst einer Geschichte, die ständig oszilliert zwischen gefühlvollem Drama, alptraumhaftem Märchen und düsterem Psychothriller, und siehe da: Die Mischung klappt, auch wenn man es kaum für möglich halten sollte.
Von allen Verschlungenheiten bereinigt geht die Story ungefähr so: Irina aus der Ukraine teilt das Schicksal vieler Landsfrauen im freien modernen Europa. Sie wird als Hure gelockt/verschleppt und gerät in die Gewalt des dämonischen Zuhälters Miffo, der die Frauen auf jede denkbare bzw. undenkbare Weise misshandelt und sie unter unmenschlichen Bedingungen gefangen hält. Den einzigen Mann, der sie liebt und der ihr Kraft gibt, das Martyrium irgendwie zu ertragen, findet Irina tot auf einer Müllkippe verscharrt. Sie wird als Gebärmaschine einsetzt, bekommt neun Kinder in zwölf Jahren, und jedes wird ihr nach der Geburt abgenommen und an reiche Menschen verkauft. Das letzte dieser Kinder will sie aber nicht verlieren, und als sie den (vermeintliche) Name der Adoptivfamilie erfährt, fasst sie ihren Plan. Sie sticht Miffo nieder, schnappt sich einen Haufen Geld und fährt in die Stadt im Norden, in der Familie Adacher wohnt. Als vielseitig befähigte Haushälterin verschafft sie sich Zutritt, und nach einigen Konflikten gewinnt sie auch das Vertrauen der verschlossenen, an einer merkwürdigen Krankheit leidenden Tea, die sie für ihre Tochter hält. Sie sucht unentwegt nach den Adoptionsunterlagen und scheint sie schließlich im Familiensafe zu finden, doch als Miffo wieder auftaucht und die Vergangenheit sie einholt, wird klar, dass sie ihren Plan nicht umsetzen kann. Sie wird schlimm verprügelt, muss Miffo schließlich in Notwehr töten, und bei der polizeilichen Untersuchung des Falles bricht ihre Welt völlig zusammen als sie erfährt, dass Tea tatsächlich nicht ihre Tochter ist und die Unterlagen der Familie Adacher sich auf eine zukünftig geplante Adoption beziehen. Obgleich die Behörden sich durchaus einfühlsam und verständnisvoll zeigen, muss sie für Jahre ins Gefängnis, und am Tage ihrer Entlassung wartet Tea auf sie, die nun eine junge Frau geworden ist.
Das ist wahrlich dicker, harter Tobak und Tornatores alles andere als dezente, nüchterne Inszenierung unternimmt nicht den Versuch, den Zuschauer in irgendeiner Weise zu schonen, ganz im Gegenteil. Er bereitet die Geschichte auf als dunkles, anspielungsreiches Mysterium voller chronologischer Sprünge, jäh dazwischengehackter schrecklicher Erinnerungen und überraschender Wendungen, die dem aktuellen Geschehen häufig eine neue Richtung und vergangenem Geschehen eine neue Bedeutung geben. Helle, sonnige Bilder erinnern an Irinas kurze Liebe zu dem Markthändler, grelle, heftig brutale Szenen von Gewalt, Folter und Erniedrigung überfallen sie immer wieder, und darüber legen sich die mattfarbigen, elegischen Impressionen aus der Stadt im Norden, die nicht näher benannt wird. Es wäre unangemessen, sich allzu viele Gedanken über Logik oder Stimmigkeit der Geschichte zu machen (da ließen sich mit Fug und Recht etliche große Fragezeichen setzen!), diesen Film muss man mit den Sinnen erleben und sich wie gesagt auf Tornatores Gefühlskosmos einlassen, dann weiß man vielleicht wie ich zu schätzen, dass er ganz kompromisslos auf Emotionen setzt, auf eine Überwältigungsstrategie, die trotz einiger Übertreibungen und einer enormen Anhäufung von Leid, Schicksal und Gewalt nicht aus dem Ruder läuft, sondern in sich stimmig bleibt. In zwei Stunden und zumeist ruhigem, fast trancehaftem Tempo wird das rätselhafte Puzzle Stück für Stück und mit sehr effektvoller Verzögerungstaktik zusammengebaut, die Spannungsschraube zieht zum Finale hin wirkungsvoll an und der Regisseur Tornatore zeigt eindrucksvoll, dass er dieses Handwerk perfekt versteht. Die Bilder sind dicht und stark, Ennio Morricones Musik stützt gekonnt das künstlerische Konzept, und vor allem bietet Kseniya Rappopot als Irina eine grandiose Darbietung, die jeden Zweifel, jedes Stirnrunzeln einfach aufsaugt und uns dazu bringt, ihr zu folgen, mit ihr zu fiebern und zu leiden bis zum Schluss, und das ist wirklich große Schauspielkunst.
Die einen werden den Kopf schütteln, die anderen werden fasziniert sein (zu denen gehöre ich), kalt lässt dieser Film sicherlich niemanden, und zu häufig kann man das wohl auch nicht sehen. Wenn es aber so überzeugend und zwingend dargeboten wird wie in diesem Fall – gern! (26.5.)