Gomorra (Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra) von Matteo Garrone. Italien, 2008. Toni Servillo, Gianfelice Imparato, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo, Salvatore Abruzzese, Marco Marcor, Ciro Petrone, Carmine Paternoster

   Nochmal der Süden, diesmal aber ein deutlich anderes Kaliber, auch eine andere, fremde Welt, aber eine Welt, die von uns hier oben so unendlich weit entfernt scheint wie der Mond – zumindest hätten wir das gern! Italienische Mafiafilme hat es immer mal gegeben, die meisten sind auch ziemlich stark, selten aber denke ich hat mich ein solcher Film so erschüttert und sprachlos zurückgelassen wie dieser.

   Los geht’s mit einem Massaker im Sonnenstudio, enden tut’s mit einem Massaker draußen auf dem Land am Meer, dazwischen gibt’s weitere Massaker, in erster Linie aber dominiert ein journalistisch und dokumentarisch geprägter Blick auf das Lebern im Camorraland in und um Neapel. Ein paar Betonwohnblocks bilden ein Handlungszentrum, daneben gibt’s kleine Läden und handwerkliche Betriebe, ein paar Klantreffpunkte, eine Mülldeponie, ein paar Grundstücke und Häuser hart am Rande der Stadt, die sich Bald dorthin ausbreiten wird. Dazwischen gibt’s auch Menschen. Zwei junge Typen schießen quer und legen sich mit der Organisation an, wofür sie schließlich erschossen und mit einem Bagger weggeräumt werden wie KZ-Opfer. Ein anderer Junge möchte in die Organisation, muß dafür aber seine Tante verraten, die fast vor seinen Augen umgelegt wird, und lernt, dass er sich auf eine Seite schlagen und dann dort bleiben muß, egal was passiert. Ein Geldbote der Camorra wird gegen seinen Willen und sein Buchhalternaturell in die Gewalt hineingezogen und lernt, dass er Teil des Ganzen ist und sich nicht heraushalten kann, egal was er persönlich tut. Ein Typ frisch von der Uni will für einen Geschäftsmann arbeiten, der in Müll macht, lernt dabei seine Grenzen kennen und versucht, integer zu bleiben, in dem er aussteigt und sich distanziert von dem ganzen Dreck. Und so weiter. Es gibt keine stringente Handlungsstruktur, ist auch gar nicht nötig, und wer nun wohin gehört und gegen wen Krieg führt, ist so was von egal und das Wissen darum würde uns keinen Schritt weiter helfen. Es gibt auch keine Protagonisten und erst recht keine Identifikationsfiguren, es gibt kein Melodrama, keine italienische Oper und kein episches Klagelied über Leid und Tod unter südlicher Sonne. Dies ist ein knallharter, stocknüchterner Blick in den Abgrund, eine kommentarlose Bestandaufnahme, ein einerseits ausschnitthafter und dennoch hochgradig detaillierter Blick in ein System, das sich seit Jahrzehnten etabliert hat und sich nun immer wieder neu befruchtet, mit jeder Generation, die nachwächst, denn ungeachtet der furchtbaren Zahlen im Abspann finden sich da unten tatsächlich noch Leute, die Kinder zeugen und damit für Nachschub in der Maschinerie sorgen.

   Diese Maschinerie wird im wesentlichen von zwei Faktoren angetrieben: Den Geschäften und der Gewalt. Bei den Geschäften geht es in erster Linie um Drogen, mittlerweile aber auch häufig um Müll, der höchst lukrative Beziehungen zu erzeugen scheint und dazu führt, dass vielen Leuten ihre Grundstücke abgepresst werden zur Erschließung neuer Deponien. Die alte Infrastruktur wird zerstört, eine neue entsteht, nur dass darin niemand leben kann und nur einige wenige davon profitieren, während alle übrigen in ewiger Angst und Abhängigkeit leben. Die Vorstellung, die Camorra könne so etwas wie eine Ersatzfamilie mit sozialer Funktion und sozialem Auftrag darstellen (so wie man es in vielen US-Filmen dieser Art gern sieht), ist lachhaft und wahnwitzig, hier geht es einzig um Macht und Geld und Gewalt. Die Gewalt ist allgegenwärtig, immer da, kann jederzeit und an jedem Ort und gegen jeden losbrechen, und das Grausame ist, dass es niemanden gibt, der die Menschen davor beschützt. Die Carabinieri übernehmen den Body Count, stehen achselzuckend in der Gegend und sind sowieso selbst korrupt bis unter die Arme, weswegen sie in diesem Film keine Erwähnung und keinen Platz finden. Staatlicherseits gibt es keine wirksame Initiative, keine funktionierende Struktur, die der Camorra gewachsen ist, ihr entgegen treten könnte, denn die maßgeblichen Leute sind entweder gekauft oder gründlich eingeschüchtert bzw. gleich getötet worden. Der Film zeichnet ein durch und durch pessimistisches, erschreckendes Bild einer Gesellschaft, die völlig in der Hand von rücksichtslosen, brutalen Verbrechern ist, und dieses Bild ist so eindringlich, nachhaltig und beängstigend, wie ich es in keinem anderen Mafiafilm bislang gesehen habe.

   Matteo Garrone wählt einen rauen, direkten Stil, die oft sprunghaft wechselnden Szenen kommen direkt aus dem Milieu, nahe an den Leuten, schnelle schroffe Bilder aus einer dreckigen harten Welt, schonungslos in den Mordszenen, genauso schonungslos aber auch in seinen Mitteilungen und Aussagen und die sind in ihrer Nachwirkung noch viel schlimmer als das unentwegte böse Blutvergießen. Die Schauspieler scheinen ebenfalls direkt vor Ort zuhause zu sein, alles wirkt äußerst authentisch und realistisch, und wer nicht die Geduld aufbringt, zweieinviertel Stunden Alltag im Camorraland mitanzusehen, der kann ja wieder zu Scorsese rennen, da hat er dann die Hollywoodversion davon. Dies ist jedenfalls ein großer Film von überragender Bedeutung, jedenfalls könnte er sie haben, obwohl man ja eigentlich schon weiß, dass an dem System kaum wirklich gerüttelt werden kann. (17.9.)