It’s a free world (#) von Ken Loach. England, 2007. Kierston Wareing, Juliet Ellis, Leslaw Zurek, Joe Siffleet, Colin Coughlin, Maggie Russell, Raymond Mearns, Davoud Rastagou
Das Wort „aktuell“ klingt für mich immer irgendwie blöd und hat einen sensationsheischenden Beigeschmack, aber in diesem Fall will ich das mal übersehen – aktueller als Ken Loachs neuestes Werk kann ein Film eigentlich nicht sein, und das ist rundweg positiv gemeint. Das ultimative Statement zur Condition Humaine im frühen 21.Jahrhundert und das definitive Porträt des allmächtigen Brutalkapitalismus, der unsere schöne neue Welt prägt und beherrscht, der unser Handeln leitet, unsere Ethik korrumpiert und der unser Bild vom Menschen auf unbestimmte Zeit, so scheint es jedenfalls, in Stein gemeißelt hat. Aus Nord-Süd ist im wesentlichen Ost-West geworden, zumal sich nach dem Ende des sogenannten Ostblocks unseren Humantechnokraten und Menschenhändlern ein ganz neuer, schier unendlich ergiebiger Markt an „Humankapital“ erschloss, der nun seit vielen Jahren mit atemberaubender Gründlichkeit und Kaltblütigkeit ausgebeutet wird. Der Mensch, zumal der osteuropäische Mensch (soooviel hat sich am Bild des Untermenschen ja doch nicht geändert!), ist längst zur Ware degradiert worden, zur Kalkulationsmasse, zum Ökonomiefaktor für Schlepperbanden, Großunternehmen und sogenannte „Jobvermittler“, die sich ganz nach modernem kapitalistischen Muster wie Parasiten als Dienstleister in den Wirtschaftsmechanismus eingeloggt und sich längst als wesentlicher Faktor etabliert haben. Die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft ist eine perfide Horrorshow, an der einige wenige bombastisch verdienen, in der einige mehr ums Überleben kämpfen und in der unendlich viele aus ihrem heimatlichen Elend mit absurden Versprechungen in den goldenen Westen gelockt und dort wie Tiere in Armutsquertieren vegetieren, wie Sklaven ausgebeutet und bei Bedarf jederzeit wieder abgeschoben werden. Illegale ohne Identität, ohne Rechte, ohne eine Lobby. So Buschmann, gut jetzt.
Ken Loach hat es sich wahrlich nicht leicht gemacht, denn statt uns wie naheliegend einen Täter oder ein Opfer als Hauptperson anzubieten, entscheidet er sich für eine Person irgendwie in der Mitte, ein potentielles Opfer, das unbedingt zum Täter aufsteigen möchte und auf diesem Weg den gesunden Menschenverstand und den Blick für die Verhältnisse verliert. Zum Beispiel Angie: Die arbeitet bei einem „Jobvermittler“, sprich sie hilft, in der Ukraine und Polen und sonstwo billige Menschen zu rekrutieren und nach London zur weiteren Verwertung zu schaffen, wird dann gefeuert, weil sie einem Kollegen deutlich untersagt, ihr an den Hintern zu gehen, und beschließt, selbst in den Business einzusteigen. Gemeinsam mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin Rose macht sie sich daran, ihre alten Kontakte auszunutzen, und auf dem Weg nach oben ist ihr fast jedes Mittel recht. Die beiden Frauen haben schnell Erfolg, verdienen gut, und natürlich locken bald noch mehr Erfolg und noch mehr Geld, und irgendwann überschreitet Angie in ihrer Rücksichtslosigkeit eine Grenze, die Rose nicht mehr zu überschreiten bereit ist. Sie trennen sich, und am Schluss sieht man Angie mit einer anderen Partnerin weitermachen.
Dazwischen aber geschieht noch anderes: Angie verliert mehr und mehr den Kontakt zu ihrem halbwüchsigen Sohn, der mehr bei den Großeltern lebt als bei ihr und der in der Schule Probleme hat. Sie freundet sich mit einem jungen polnischen Mann an, doch so richtig wird nichts draus, weil sie sich aufs Geschäft konzentriert. Sie hilft auch einer irakischen (oder afghanischen) Familie, liefert die jedoch später wieder ans Messer, um selbst Illegale einschleusen zu können. Sie wird angegriffen und zusammengeschlagen, und eine Gruppe maskierter Männer überfällt sie schließlich und bedroht sie und den Jungen mit dem Leben, wenn sie den überfälligen Lohn nicht zahlt, den sie eigentlich für sich selbst abzweigen wollte.
Sogar dieser Schock am Ende, nach all den zunehmend negativen menschlichen Begegnungen zuvor, kann sie nicht von ihrer fast schon obsessiven Fixierung aufs Geschäft abbringen; zwar scheint sie gewillt, das Geld zu zahlen, um sich und Jamie aus der Schusslinie zu bringen, doch macht sie weiter wie bisher, benutzt das alte Regenbogenlogo und sucht weiter in Osteuropa nach willigen Arbeitskräften für ihre Zwecke. Ein schwieriger, sperriger Ausklang eines schwierigen, sperrigen Films, der sich gar nicht so gibt, sondern wie gehabt ruhig, unspektakulär und präzise gestaltet ist mit Loachs gewohnt genauem Block für Mensch und Milieu und einem sehr pointierten Drehbuch von Paul Laverty, in dem eine klassische kapitalistische Karriere in jedem Stadium der Eskalation aufgeführt wird. Was anfängt als ehrgeiziges, eher spontanes Abenteuer zweier scheinbar unbedarfter Frauen, entwickelt sich schnell zu einem unternehmen in immer größerem Stil und mit immer unabsehbareren Konsequenzen. Angie muss sich mit dubiosen Geschäftsleuten einlassen, die ihr die Arbeiter abnehmen, die aber auch Bedingungen stellen und sie tiefer und tiefer in eine halblegale Grauzone hineinziehen, aus der irgendwann kein Weg mehr herausführt. Gleichzeitig verselbständigt sich der Kreislauf von Erfolg und noch mehr Hunger nach Erfolg, vor allem bei Angie, die ganz schnell sämtliche Skrupel fahren lässt, die sich zwischendurch zwar schon mal menschlich und fast fürsorglich gibt, die aber letztlich so gut wie alle Bedenken zugunsten des Geschäfts fahren lassen würde. Ihren Sohn hält sie mit Versprechen hin, die sie nie wird erfüllen können, ihre Freundin, die immer wieder Bedenken anmeldet, vertröstet sie von einem schmutzigen Deal zum nächsten, und sich selbst versucht sie durch eine gute Tat zwischendurch zu beruhigen. Als Mensch, als Person wird sie völlig aufgerieben, verschwindet buchstäblich in der Maschinerie, entfremdet sich von allen und von sich selbst und endet als beängstigend leere, kalte Hülle. Natürlich hat sie es längst nicht nach oben geschafft – das Eis ist dünn, auf dem sie wandelt und der Abgrund ist immer nah, wie sie selbst am eigenen Leib erfahren hat, sie wechselt bruchlos die Identität zwischen Täter und Opfer. Einerseits verletzlich und angreifbar, andererseits hart und skrupellos, und je nachdem schwanken auch unsere Emotionen in Verbindung mit ihr, und Kierston Wareings fulminante Darstellung verstärkt diesen irritierend zwiespältigen Effekt, ist in jedem Moment glaubhaft und real und gibt dieser komplexen Figur eine durchdringende und zugleich verstörende Menschlichkeit. Ihre Performance ist, wenn man so will, das dunkle Gegenstück, die Komplementärfigur zu Sally Hawkins’ Poppy in „Happy-go-lucky“. Die beiden britischen Großmeister haben damit die zwei Seiten der Medaille bearbeitet, wobei ich finde, dass sie klammheimlich ein wenig die Seite gewechselt haben, denn früher war eigentlich Mike Leigh eher für das grimmige, pessimistische Zeug zuständig.
Loachs Fokus bleibt weitgehend auf Angie, ihre engste Umgebung und ihre geschäftliche Unternehmungen gerichtet, doch bleibt er sich treu und findet zwischendurch immer wieder Bilder für die Opfer, die Handelsware, die Ärmsten, die Rechtlosen, die in Blechhütten und Wohnwagen irgendwo im Dschungel der Großstadt hausen, verkauft und verschoben nach Bedarf und Belieben, erniedrigt und entwürdigt von den Kapitalisten des globalen, freien Marktes, der, und da schließt sich dann der Kreis zurück zum Titel des Films, eine ganz spezielle Sorte Freiheit postuliert.
Überflüssig zu sagen, dass dies einer der wichtigsten Filme des Jahres ist, sozusagen der auf neunzig Minuten komprimierte, essentielle Kommentar zur Weltlage. In der Tat – essentieller geht’s fast nicht. (3.12.)