Julia (#) von Erick Zonca. Frankreich/USA, 2007. Tilda Swinton, Aidan Gould, Kate del Castillo, Saul Rubinek, Bruno Bichir, Jude Ciccolella, Horacio García Rojas
Eine Frau unter Alkohol und immer hart am Rand der totalen Auflösung: Nachts in den Kneipen lässt sie’s krachen, am Morgen dann das böse Erwachen mit Kater und Kotzgeschmack im Mund, im zerschlissenen Fummel stöckelt sie derangiert von dannen, torkelt durch den Tag bis zum nächsten Abend in der nächsten Kneipe und dann immer so weiter. Die Anonymen Alkoholiker meidet sie wenn’s geht, und nur ein einziger Freund aus dieser Gruppe hält zu ihr und sorgt dafür, dass nicht schon längst alles den Bach runter gegangen ist. Als eine junge Mexikanerin aus der Gruppe sie bittet, mit ihr zusammen den eigenen Sohn zu entführen, der beim stinkreichen Opa lebt und ihr angeblich vorenthalten wird, wittert sie die Chance auf das große Geld und beschließt, das Ding allein durchzuziehen. Die halsbrecherische Reise geht von L.A. durch die Wüste bis nach Tijuana, wo sie Bekanntschaft mit der lokalen Entführungskultur macht und fast das Kind und ihr Leben verliert. Aber eben nur fast.
Klar denkt jeder sofort an „Gloria“ von John Cassavetes mit Gena Rowlands als abgewrackte Tante, die zunächst eher unfreiwillig für einen kleinen Jungen ihr Leben riskiert, und genau wie der Film mutet uns auch Erick Zonca einiges zu. Zweieinviertel Stunden lang begleiten wir Julia auf ihren chaotischen Wegen durch ein chaotisches Leben, und ich denke mal, es liegt nicht nur an meiner persönlichen Disposition, dass es zum Teil äußerst anstrengend und aufreibend ist, sich das anzusehen und womöglich noch so etwas wie Sympathie für die Frau zu empfinden. Aggressiv und sarkastisch straft sie all jene ab, die vorgeben ihr helfen zu wollen, Jobs kann sie nicht behalten, ihre Sucht nicht bekämpfen und erst recht keinerlei Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Teilnahmslos und gleichgültig lässt sie sich treiben und fallen, und auf so was wie Moral pfeift sie sowieso. Sie betrügt eine psychotische und verzweifelte junge Mutter, die ihr Kind für sich haben will, sie überfährt einen ganz netten Typen, der ihr nichts getan hat, und sie geht mit dem Jungen unglaublich roh um, verabreicht ihm Tabletten und fesselt ihn, und es dauert sehr lang, bis sie tatsächlich mal so etwas wie ein positives menschliches Gefühl zeigt. Diese Entwicklung steht im Zentrum des Films – von der egozentrischen, ignoranten Alkoholikerin bis hin zu einer Frau, die wenigstens im kleinen Ansatz so etwas wie Verantwortungsbewusstsein entwickelt, auch wenn sie bis zum Schluss lügt und intrigiert in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas von den zwei Millionen Lösegeld abzustauben zu können. Erst als sie vor die Wahl gestellt wird, lässt sie die Kohle sausen und rettet den Jungen, was den Entführer ironischerweise zu dem Fehlschluss verleitet, sie sei eben doch die Mutter. Daraus ergibt sich allerdings kein seifiges Happy End, sondern eher der von Skepsis und banger Vorsicht geprägte Ausblick in eine mehr als unsichere Zukunft, denn natürlich ist absolut nicht vorhersehbar, ob Julia aus dieser Erfahrung heraus in der Lage sein wird, ihrem Leben eine nachhaltige Wende zu geben, zumal ihre Tricks und Finten bis zuletzt berechtigte Zweifel daran zulassen. Immerhin hat sie sich soweit aus ihrer Apathie gelöst, dass sie einen Jungen, den sie selbst zuvor in Lebensgefahr gebracht hat, aus ebendieser rettet und zwar mit überraschendem Mut und unerwarteter Entschlossenheit, nachdem sie ihre Abenteuer zuvor meistenteils halbtrunken oder jedenfalls stets kurz vor dem Nervenzusammenbruch übersteht, wenn sie sich nicht gerade Scharmützel mit ihrem Schützling liefert.
Zoncas Film durchläuft ebenfalls einige Metamorphosen, entwickelt sich nach dem trunkenen Großstadtfieber hin zum Thriller, dann zum Road Movie und wieder zurück zum Thriller, und trotz der wenig auf gestraffte, durchdachte Dramaturgie abgezielten Erzählung entstehen zwischendurch Momente großer, intensiver Spannung, die auch den unwilligen Zuschauer immer wieder zurückholen. Wenn Julia mit dem Jungen allein unterwegs ist in Motels, der Wüste oder dem fremden Mexiko, gibt es dann sogar Zwischenmenschliches. Die erklärte Kinderhasserin entdeckt tatsächlich so etwas wie Zuneigung zu dem Bengel, der ständig changiert zwischen verängstigtem, panischem Opfer, aufmüpfigem Jungen und verwöhntem, eitlem kleinen Macho, der sich lieber in feinem Zwirn präsentiert als in den Prollklamotten, die Julia ihm andienen will. Diese Ruhe inmitten all der Hektik vorher und nachher ist überaus wohltuend, zumal das Finale dann im „Amores Perros“-Milieu angesiedelt ist und in die düsteren Abgründe des mythisch gewalttätigen Mexiko führt, in denen bekanntlich schon mancher naive Gringo versunken ist. Glücklicherweise kommt Zonca ohne allzu massive Gewaltdarstellung aus, sein Film bleibt aller vermeintlicher Launenhaftigkeit doch bei der Sache, und sowieso wird er stets zusammen gehalten von Tilda Swinton, die natürlich eine bewundernswert großartige Darstellung zeigt, zwar eine, der man das intensive Training deutlich ansieht (ganz wie einst bei Gena Rowlands auch) und die mich noch lange nicht dazu verleitet, diese Julia irgendwie zu mögen, die aber dennoch hinter all der zerstörten, schroffen Fassade einen Rest Menschlichkeit und Würde erahnen lässt und der Figur ein enormes Maß an Präsenz und Tiefe verleiht. Die Bereitschaft, ihre gesamte Physis einzubringen und auch in die letzten miesen Winkel des Charakters vorzudringen, ist mehr als respektgebietend, und über ihre in vielen Filmen erwiesene hohe professionelle Kunst hinaus geht sie hier an die Grenzen dessen, was man als Schauspieler vielleicht auch zeigen kann und will. Zonca bleibt dicht bei ihr, liefert uns all ihren Zuständen und Aktionen aus und lässt uns keine Wahl, als uns entweder auf sie einzulassen oder nach einer Viertelstunde den Kinosaal zu räumen. Ein sehr kompromissloser, rauer, fordernder Film, dessen Länge man zwischendurch zwar spürt, aber nicht als unangenehm wahrnimmt, ein Charakterporträt bis an die Schmerzgrenze, das bestimmt nur ein kleineres Publikum erreicht, aber offenbar auch nicht für die großen Säle gemacht wurde und deshalb auf Klischees, Melodrama und Banalitäten ganz verzichten kann. Lange nichts gesehen von Erick Zonca – seit „Liebe das Leben“ vor zehn Jahren, um genau zu sein -, dies aber ist eine sehr eindrucksvolle Rückkehr. (24.6.)