Le silence de Lorna (Lornas Schweigen) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Belgien/Frankreich/Italien, 2008. Arta Dobroshi, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Alban Ukaj, Morgan Marinne, Olivier Gourmet

   Apropos Belgien - hier haben wir wieder eher das Bild, das mit unseren gewohnten Klischees übereinstimmt, das Bild eines öden, unbehausten Landes mit vielen trüben, freudlosen Menschen drin. Aber nicht täuschen lassen – es ist ein Land wie jedes andere, denn die Dardennes erzählen uns diesmal eine echt europäische Geschichte, das heißt eine Geschichte aus dem neuen, vereinten, freien Europa, in dem Freiheit allerdings nur die Freiheit des maßlosen Kommerz bedeutet. Schon insofern ist dies eine Geschichte, die unbedingt abstrahiert werden muss von ihrem konkreten Setting, denn überall auf der Welt hat Freiheit nichts mit dem zu tun, was die Idealisten oder Philosophen einst gemeint haben mögen, sondern ist einzig die Freiheit einiger weniger Raubtierkapitalisten, im Interesse des Profits buchstäblich über jede Leiche zu gehen. Nichts neues, nichts erfreuliches, aber eine Geschichte, die immer wieder erzählt werden muss, wenn man wissen will, wie es in der Schönen Neuen Welt zugeht.

   Im kleinen Belgien trifft sich die internationale Haute Volée: Albanische Immigranten, italienische Schlepper, russische Kunden und belgische Junkies sind die schillernden Protagonisten in einem Drama um Geld, Geld und nochmals Geld. Ehen werden geschlossen, geschieden, neu geschlossen, Identitäten und Pässe werden verschoben, gewechselt, verkauft, Aufenthaltsgenehmigungen erschlichen und vor allem erkauft. Dieses System, rücksichtslos und um jeden Preis betrieben von Schlepperbanden und Menschen, die im Westen auf eine bessere Zukunft hoffen, funktioniert als Ganzes solange, wie jedes einzelne Rädchen im Getriebe funktioniert. In dem Moment, da die junge Albanerin Lorna echte Gefühle für den Junkie Claudy entwickelt, den sie eigentlich nur vorübergehend heiratet, um selbst Belgierin zu werden und später ihrerseits Aspiranten aus dem Osten einzuschleusen, in dem Moment, da die Kalkulationen des italienischen Schleppers Fabio und sein hochdotierter Deal mit dem zahlungsfreudigen Russen in Gefahr geraten, in dem Moment gerät auch Lornas Leben massiv in Gefahr. Sie kann nicht verhindern, dass Claudy, der erfolgreich auf Entzug war, doch an einer Überdosis stirbt, die ihm von Fabios Leuten verabreicht worden war, und sie muss einsehen, dass sie als Teil des mörderischen Systems auch eine Schuld an seinem Tod trägt. Sie beginnt sich zu widersetzen, Sand ins Getriebe zu streuen, unter anderem mit einer eingebildeten Schwangerschaft, an die sie selbst fest glaubt, an die sich regelrecht klammert, und die ihr schließlich genug Kraft gibt, um Fabios Killer zu entkommen und im Wald in einer einsam gelegenen Hütte vorerst Unterschlupf zu finden, immer mit der Perspektive, für sich und das Kind sorgen zu wollen.

   In gewohnt einfachen, klaren Bildern erzählen die Dardennes ihr Drama auf gewohnt einfache, klare Weise. Die Verhältnisse sind, wie sie sind und müssen nicht erklärt und auch nicht hergeleitet werden. Längst schon funktioniert die Welt nach den Regeln von Profit und Geschäft, und als einzelner Mensch man hat die Wahl, sich einzureihen und eventuell zu profitieren oder wenigstens mitzuschwimmen im Strom, oder zu opponieren und den Untergang zu riskieren, dafür aber so etwas wie eine private Integrität zu erhalten. Lorna ist eigentlich schon über diesen Punkt hinaus, denn natürlich ist auch sie zum Teil für Claudys Tod mitverantwortlich, auch wenn sie ihn zu keinem Zeitpunkt befürwortet oder unterstützt, doch hat ihr Fabio niemals etwas vorgemacht und sie kennt genau die Konsequenzen ihres Handelns. Ihr Sinneswandel kommt zu spät, sie hofft vielleicht, dass Claudys irgendwie aus der Sache rauskommt und versteht nicht, dass Fabio bei der Befolgung der Regeln keine Kompromisse und keine Rücksicht kennt: Vertrag ist Vertrag, der Junkie ist im Weg, also weg damit. Ein Mensch, erst recht eine so jammervolle Existenz, ist nur ein Baustein im Gefüge, ein operatives Element, dass bei Bedarf jederzeit entfernt wird. Selbst mit Lorna, die ihm dennoch nicht ganz gleichgültig zu sein scheint, verfährt er auf diese Weise, auch sie wäre gestorben, wenn sich nicht im letzten Moment ihr Kampfes- und Überlebenswille geregt hätte. Dies ist zum einen ein düstere und beklemmend realistische Zustandsbeschreibung der modernen Welt und zum anderen ein eindrucksvolles individuelles Drama über Selbstfindung, Stolz und Menschenwürde. Lorna begräbt all dies lange genug unter ihrer Sehnsucht nach der Snackbar und der gemeinsamen Zukunft mit ihrem Freund Sokol, der als dubioser Warentransporter ebenfalls ständig in Geschäften innerhalb Europas unterwegs ist und der sich, als es darauf ankommt, ohne Probleme von Lorna lossagt um selbst davonzukommen. Lorna ist die einzige, die nicht auf Dauer bereit ist, Geschäfte über Gefühle zu stellen, weswegen sie die einzig wirklich menschlich handelnde Person ist, die einzige Identifikationsperson, obwohl es uns vor allem in der ersten Stunde nicht gerade leicht gemacht wird, uns mit ihrem Weg zwischen Masochismus und innerer Verhärtung zu identifizieren. Arta Dobroshis faszinierende Darstellung jedoch ermöglicht uns einen Zugang, einen wenn auch distanzierten Kontakt, der sich bis zum Schluss deutlich intensiviert.

 

   Ein starker, eindrucksvoller Film mit sehr unbequemen Aussagen, die natürlich nicht gern gehört werden. Denn: Wer die Segnungen des globalen Kapitalismus negiert, der ist bekanntlich Kommunist, oder? (22.10.)