Mio fratello è figlio unico (Mein Bruder ist ein Einzelkind) von Daniele Luchetti. Italien, 2007. Elio Germano, Riccardo Scamarcio, Diane Fleri, Angela Finocchiaro, Luca Zingaretti
Ihrer immerwährenden Not gehorchend, haben italienische Filmemacher in den vergangenen Jahrzehnten eine große Fertigkeit darin entwickelt, die heillos verfranste und verfahrene politische Lage ihres Landes anhand des familiären Mikrokosmos aufzuarbeiten. Die Mittel, derer sie sich bedienen, decken das gesamte denkbare Spektrum ab – Don Camillo kommt als scheinbar familiengängige Komödie daher, Bertolucci macht’s unangenehm pompös und gewalttätig, der großartige „Die besten Jahre“ versucht sich als Zeitpanorama, und dieser neue Film hier ist vom Anspruch eher ein wenig kleiner geraten, was aber nichts über seine Qualitäten aussagen soll, denn die sind beachtlich.
Eine Familie in einer Stadt im Latium südlich von Rom, in der Zeit von 1962 bis zu Beginn der Siebziger. Papa geht in die Fabrik, Mama ist die Inkarnation der italienischen Mamma, eine Tochter die Cello spielt und zwei Brüder, um die sich der ganze Trubel im wesentlichen dreht. Manrico der Ältere, ein charismatischer Draufgänger und leidenschaftlicher Linker, Accio der jüngere, ein unverbesserlicher Querulant, verstockt, bockig, verquer, der vor allem selbst nicht weiß, was er will und wohin er gehört und der deshalb bei aller Welt stets und bei jeder Gelegenheit aneckt. Aus dem Priesterseminar fliegt er binnen kurzem heraus, weil er es darauf anlegt, dann schreibt er sich bei den lokalen Faschisten ein, nicht etwas weil er an deren Politik glaubt, sondern nur aus Trotz gegen den älteren, stärkeren, immer beliebteren Bruder, in dessen Freundin Francesca verliebt er sich natürlich auch, und als er mit den Schwarzhemden durch ist, schwenkt er kurzerhand um und wird auch ein Roter. Doch das Mädchen kriegt er nicht, zu sich selbst findet er auch nicht, und die Liebe seiner Mutter in Konkurrenz zu Manrico erringt er erst recht nicht. Manrico ist mittlerweile Vater geworden und lebt in Turin, doch hat er sich halb von Francesca getrennt und bittet Accio um Geld. Erst als Manrico in Turin auf offener Straße von Polizisten erschossen wird, erkennt der kleine Bruder, wie wenig er wusste und wie weit sich die beiden voneinander entfernt hatten. Er nimmt sich vorübergehend Manricos und Francescas Sohn an und kann vielleicht in seiner Trauer um den Bruder doch endlich zu sich selbst finden.
Zehn Jahre italienische Lokalpolitik und zehn Jahre italienischer Familiengeschichte werden also verhandelt, und wie man sich denken kann, geht es ziemlich temperamentvoll und emotional zur Sache. Accio ist ein phänomenaler Querulant, der sich einfach in jeder Situation unmöglich aufführt und selbst die Liebe seiner Mutter erschöpft, während Manrico etwas cooler auf Distanz bleibt und dem Bengel nur ab und zu die Abreibung verpasst, die er mal wieder nötig hat. Das Verhältnis der beiden will sich bis zuletzt nicht so richtig ändern – der Große bleibt der Große, der Kleine bleibt der Kleine, unreif und unsicher, ohne Weg und Ziel, verwirrt und von nicht ermüdender Bissigkeit. Aus lauter Verdruss missgönnt er dem Bruder den Erfolg und das Mädchen, fühlt sich nirgendwo zuhause und verstanden und ändert seine politischer Gesinnung scheinbar wie der Wind die Richtung. Politik wird hier endgültig zum reinen Theater, willkürlich wird mit Überzeugungen, Ideologien, Phrasen und Uniformen jongliert, wild fliegen die Fäuste, rot glühen die Köpfe, doch unter dem Strich bleibt viel heiße Luft und leider auch ein paar Opfer. Luchetti hat seinen Spielort mit Bedacht gewählt – die Stadt Latina wurde erst Anfang der Dreißiger von Mussolinis Faschisten erbaut, und ihre für Italien ganz untypische, eher kalte und pompös-maschinelle Architektur soll dem Diktator offenbar ein ewiges Denkmal setzen (in Libyen, so wird Accio von seinem Anführer informiert, könne man die wahren Blüten faschistischer Architektur bewundern!). Seine Nachfolger indes zünden die Autors ihrer Gegner an, prügeln auf die Besucher eines Konzerts ein oder betätigen sich sonst wie konstruktiv und kulturell wertvoll. Zugegeben fällt den Roten auch nicht viel mehr ein, auch hier nur lautes Brüllen von Parolen und eine unschöne Gewaltbereitschaft, und so ist es fast schon nicht verwunderlich, dass ein Wirrkopf wie Accio in beiden Lagern landen könnte, denn die praktischen Konsequenzen für den Einzelnen und die Gesellschaft sind fast austauschbar. Bezeichnenderweise geht es in dem Film nie wirklich um Inhalte. Man hört ein paar Parolen und Sprüche hüben wie drüben, zu keiner Zeit jedoch macht eine der beiden Gruppen den Eindruck, sie sei in der Lage, konkrete Politik aktiv zu gestalten. All dies muss Luchetti nicht explizit thematisieren, es schwingt als Unterton ständig mit. Im Vordergrund steht eine archetypisch italienische Familiengeschichte, voll wilder Tragikomik, verrücktem Humor und auch manch dunkleren Tönen, und alles in allem ist dies natürlich auch wunderbares italienisches Kino mit großartigen Schauspielern, viel Gefühl für Zeitkolorit und den unberechenbaren Launen einer Erzählung, die sich wie ihr Protagonist einer klaren Linie verweigert. Trotzdem hofft man mit ihm bis zuletzt, er möge seine inneren Knoten lösen und doch seinen Frieden mit sich und seiner Familie machen, einfach weil die Darstellung so schön menschlich und warmherzig ist, und na klar, so was kann in hundert Jahren sowieso nur aus Italien kommen! (25.5.)