Mondkalb von Silke Enders. BRD, 2007. Juliane Köhler, Axel Prahl, Leonard Carow, Ronald Kukulies, Niels Bormann, Udo Schenk
Alex kommt nach Brandenburg, zieht in das alte Haus ihrer Großmutter und nimmt irgendeinen Job in einem Labor an. Ich wusste gar nicht, dass die in Fuhlsbüttel einen Frauenknast haben, witzelt der Chef zum Einstellungsgespräch, und damit ist fast alles gesagt über Alex. Später noch dies: Sie hat eine fünfzehnjährige Tochter, die nichts mehr mit ihr zu tun haben will und einen Mann, der offenbar noch was von ihr will, obwohl sie ihn schwer verletzte und deswegen verurteilt worden war. Ein Junge lungert häufig bei ihr in Haus und Garten rum, spricht wenig, ist aber hartnäckig und lässt sich kaum vertreiben. Der Vater dazu heißt Piet und ist fast genauso hartnäckig, doch Alex will eigentlich für sich bleiben und niemanden kennen lernen. Halb gegen ihren Willen wird sie dann doch in diese andere Familie hineingezogen. Toms Mutter hat sich vor Jahren erhängt und seitdem versuchen Vater und Sohn, ihren Alltag irgendwie zu meistern, doch Piet ist ziemlich überfordert und wird dem eigensinnigen Tom gegenüber immer wieder roh bis gewalttätig. Alex lässt dann doch eine vorsichtige Freundschaft zu, die zu Ende ist, als Piet Tom so sehr schlägt, dass ihm der Junge entzogen und zu Pflegeeltern gegeben wird. Einige Zeit später aber flieht Tom und will sich bei Alex verstecken und auch wieder zu Piet zurück. Piet, der weiß, dass ihm andernfalls der Junge für immer entzogen werden würde, verständigt das Jugendamt, und er und Alex müssen mit ansehen, wie ein verzweifelter Tom gegen seinen Willen mit den neuen Eltern im Auto davonfährt. Alex tröstet Piet.
Ein ganz großer „kleiner“ deutscher Film, dessen Größe darin besteht, dass er überhaupt keine große Geste nötig hat, sondern seine enorme Intensität und Wirkung allein aus dem Zusammenspiel der fantastischen Schauspieler und seiner fundamentalen Menschlichkeit (so banal das vielleicht klingt) bezieht. Handlung und Dramaturgie werden nur zögernd entwickelt, kaum vorangetrieben, es geht eher um Momente, um die Augenblicke zwischen den Ereignissen, vor allem um eine schwierige Annäherung zweier unterschiedlicher Menschen mit sprichwörtlicher Vergangenheit. Piet versucht nach vorn zu blicken, das Erlebte möglichst zu verdrängen, er will leben und sucht Kontakt auf seine etwas unbeholfene und plumpe, aber durchweg liebenswerte Weise. Eine Rolle, die dem großartigen Axel Prahl entweder schon auf den sprichwörtlichen Leib geschneidert wurde oder die er sich jedenfalls so sehr angeeignet hat, dass sie völlig typisch für ihn geworden ist. Alex’ Wunden sitzen noch tiefer, sie spricht kaum von sich, gibt wortkarg einige Eckdaten preis und sonst nichts, keinen Grund, kein Motiv, kaum ein Gefühl. Sie will erst mal allein sein, meidet Menschen, erst recht Nähe oder gar Berührung, und nur der zersauste, eckige Tom schafft es, zu ihr durchzudringen, vielleicht auch, weil sie ein Kind nicht als Bedrohung empfindet. Juliane Köhler, groß, hager, knochig, habe ich so noch nie im Film gesehen und sie schafft es, dass man auf jede Regung in ihrem angespannten, traurigen Gesicht wartet, auf ein Lächeln hofft, irgendein Signal, dass sie sich vielleicht doch öffnen und sprechen wird. Sie bewahrt allerdings ihr Inneres, lässt uns kaum zu ihr durchdringen, sie wird bis zuletzt nichts erklären und wirkt dennoch nicht wirklich fremd oder gar kalt. Diese beiden Schauspieler sind zusammen so stark und eindrucksvoll, dass wir ihre Fremdheit gern akzeptieren, auch daran denken, dass wir selbst auch nicht alles von uns preisgeben würden. Film wird hier nicht als exhibitionistische Veranstaltung verstanden und er durchleuchtet die Protagonisten auch nicht auf die Weise, wie Bergman es etwa getan hat, dennoch ist dies absolut kein oberflächlicher, seichter Film, ganz im Gegenteil.
Enders’ Stärke als Autorin und Regisseurin, bereits in dem fast ebenso tollen Debutfilm „Kroko“ eindrucksvoll dokumentiert, dass sie zugleich einfach, klar und schnörkellos und doch mit sehr viel Tiefgang und Einfühlsamkeit erzählen kann, und „Mondkalb“ zeigt diese Kunst in Vollendung. Schöne Bilder aus dem tiefen Osten, echtes Gefühl statt aufgesetzter Kitsch und eine kompromisslose Konzentration auf die wichtigen Momente, die zwischenmenschlichen eben, machen diesen Film zu einem der besten deutschen der letzten Zeit und auf jeden Fall dem besten von bisher schon ziemlich vielen guten deutschen in diesem Filmjahr. (15.4.)