Novemberkind von Christian Schwochow. BRD, 2007. Anna Maria Mühe, Ulrich Matthes, Christina Drechsler, Thorsten Merten, Adrian Topol, Jevgenij Sitchoin, Ilja Pletner, Christine Schorn, Hermann Beyer, Steffi Kühnert, Juliane Köhler

   Reisefilm zum zweiten: Ein Reise, eine Suche zwischen Ost und West, zwischen 1980 und 2007, zwischen zwei Leben, zwei Systemen und dem, was das für die Menschen bedeutete.

   Inga lebt in Malchow am See bei ihren Großeltern. Der Vater, so glaubt sie, ist unbekannt und die Mutter, so wurde ihr immer erzählt, starb bei einem Badeunfall an der See. Als der Literaturprofessor Robert aufkreuzt und ihr erzählt, er habe ihre Mutter Anna in Konstanz kennen gelernt, macht sich Inga auf den Weg zu ihrer Mutter, zu ihrer Identität, ihrer Vergangenheit, und wie man sich denken kann, wird dies sehr schmerzhaft und schwer sein und am Ende hat sie Gewissheit und bricht ihre Zelte daheim ab, denn dort hat ihr fünfundzwanzig Jahre lang niemand die Wahrheit gesagt, obwohl alle Bescheid gewusst haben.

   In dunklen, flackernden, rissigen Bildern entfaltet sich ein ungeordnetes Puzzle, das erst nach ungefähr der Hälfte der Spielzeit allmählich Konturen annimmt. Die wenigen Zuschauer im Saal reagierten auf die lange Vorlaufzeit hörbar ungehalten, was einmal beweist, wie sehr sich hiesige Sehgewohnheiten dem durchschnittlichen TV-Niveau angepasst haben, von dem sich dieser Film natürlich ziemlich weit entfernt. Er bricht die chronologische Erzählung auf und er bemüht sich auch wenig um einen herkömmlichen Film zum Thema Ost-West-Vergangenheit, obwohl es natürlich zentral darum geht: Die Flucht der Mutter mit dem russischen Geliebten und dem Fluchthelfer, der der Vater ihres Kindes ist, die bei den Eltern zurückgelassene Tochter, die auch nach der Maueröffnung nicht in den Westen geholt werden kann, die Verzweiflung, der Selbstmord, und aus Ingas Sicht all die Lügen, die ihr präsentiert wurden, um die wahre Geschichte ihrer Mutter und damit auch ihre eigene wahre Geschichte zu verschleiern. Das Politische im Privaten und umgekehrt, aber für Inga geht’s natürlich nicht um Politik, obwohl der zentrale Konflikt durchaus politisch ist: Die zugesperrte Republik, die tödlichen staatlichen Sanktionen und die nicht minder privaten Sanktionen durch Verrat, Schweigen, Lüge, Verdrängung. Der Kopfmensch Robert, der selbst mehr in Büchern zu leben scheint und der sich von seiner Partnerin gründlich entfremdet hat, will daraus einen historischen Roman basteln, eine exemplarische DDR-Biografie, und als er erkennt, dass dahinter reale Schicksale und Gefühle stehen und dass er selbst durchaus nicht unbeteiligt bleibt, ist es zu spät und Inga auf und davon. Daheim die geliebten Großeltern, die beste Freundin und ihre Mutter, sie alle wussten und haben geschwiegen, und diese Enttäuschung, diesen Verrat kann Inga nicht hinnehmen, genauso wenig wie sie das Schweigen, die Untätigkeit des Vaters akzeptieren kann, der die Tochter auch dann nicht kontaktierte, als das längst möglich war, als es um Anna bereits dramatisch schlecht stand und Inga vielleicht hätte helfen können. Ihre Trauer mischt sich mit Ohnmacht, weil sie von Ereignissen erfährt, die lange zurück liegen, die sie nicht mehr beeinflussen kann, die sie jedoch hätte beeinflussen können, wenn sie eine Chance dazu gehabt hätte.

 

   Einigermaßen erstaunlich finde ich, dass ein solch „kleiner“ Film nicht unter der schieren Last des Schicksals zusammenbricht, die dort aufgehäuft wird. Für uns saturierte Wessis hören sich die Ossigeschichten ja immer ein bisschen abenteuerlich und wild an, dabei vergessen wir natürlich, dass es mehr als genug von der Sorte gegeben hat, und somit ist auch die Geschichte von Inga und Anna so weit nicht hergeholt. Christian Schwochow hat starke, drängende Bilder für diese Geschichte gefunden, er hat seelische Zustände eindrucksvoll visualisiert und gezeigt, wie schwer es ist, gegen alle Widerstände der Wahrheit, auch der inneren Wahrheit, auf die Spur zu kommen. Anna Maria Mühe bietet in der Doppelrolle eine große Darstellung, die sehr souverän und eindringlich mit ihren beiden Figuren durch dick und dünn geht, durch unbeschwerte Momente mit der Freundin ebenso wie durch die schwere Reise in den Westen und hin zu ihrer Mutter. An ihrer Seite finden sich andere erstklassige Leute, die dem schwierigen Thema viel Glaubwürdigkeit geben, und daneben hat mir vor allem gefallen, dass der Autor/Regisseur in seinem Debüt den Mut gefunden hat, vom Wege abzuweichen, kein gefälliges kleines Fernsehspiel zu inszenieren, sondern einen komplexen, bildstarken, eigensinnigen Kinofilm. (26.11.)