Il y a longtemps que je t’aime (So viele Jahre liebe ich dich) von Philippe Claudel. Frankreich, 2008. Kristin Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Serge Hazanavicius, Laurent Grévill, Frédéric Pierrot, Lise Ségur, Jean-Claude Arnaud
Reisefilm zum ersten: Nach fünfzehn Jahren Gefängnis für den angeblichen Mord an ihrem sechsjährigen Sohn macht sich Juliette auf die Reise zurück ins Leben. Sie findet zunächst Unterkunft im Haus ihrer jüngeren Schwester Léa, mittlerweile eine sehr angesehene Dozentin, die als einzige, wenn auch sehr spät, während der Haftzeit Kontakt zu ihr aufgenommen hat. Juliette erfährt nach und nach, dass ihre Existenz nach der Verurteilung mehr oder weniger totgeschwiegen, dass sie aus ihrer Familie ausgestoßen wurde. Der Vater ist tot, die Mutter demenzkrank im Heim, und Léa tut sich schwer, ein natürliches, offenes Verhältnis zu ihrer introvertierten, fast unbekannten Schwester herzustellen. Juliette muss sich mit Bewährungsauflagen und der Suche nach Arbeit herumschlagen, sie lernt Michel, einen Kollegen Léas kennen, der selbst als Lehrer im Knast gearbeitet hat und als einer der wenigen ganz langsam Zugang zu ihr bekommt. Ihm erzählt sie, wie es zur Tat kam, und so erfahren auch wir Zuschauer ganz am Schluss, was wir vermutlich die ganze Zeit über wissen wollten.
Obwohl das eigentlich nicht wirklich wichtig sein sollte, ganz im Gegenteil. Philippe Claudel richtet unsere Aufmerksamkeit zumeist gerade nicht auf diese offene Frage, er möchte nicht, dass wir unsere Haltung zu Juliette von dieser Wahrheit abhängig machen. Irgendwann mittendrin erfahren wir bereits in einem Satz, dass sie ihren Sohn getötet hat, doch diese schockierende Mitteilung erzeugt zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die gleiche Wirkung, wie sie sie zu Beginn der Geschichte erzeugt hätte, was vor allem an der fabelhaft intensiven, sensiblen, einfühlsamen Erzählweise Claudels liegt, der sich auch auf die intimen, unbequemen Momente einlässt, ganz konzentriert und nah an den Hauptfiguren, vor allem den beiden Schwestern bleibt und zudem einen wunderschön poetischen, flüssigen Ton findet, der auch über fast zwei Stunden Spielzeit nicht einen Moment der Länge entstehen lässt. Diese zwei Stunden sind vollauf nötig, um Juliettes schweren Einstieg in das neue, das dritte Leben im Detail zu schildern. Die vielen unausgesprochenen Fragen und Vorwürfe, Léas Hemmungen, über gewisse Themen zu sprechen, die anfänglich sehr ablehnende Haltung ihres Schwagers, der lange braucht, um Vertrauen zu der „Mörderin“ zu fassen, ihre von Verunsicherung und Schüchternheit geprägten Annäherungen an die beiden vietnamesischen Adoptivkinder des Ehepaares, die zermürbende und von einigen demütigenden Szenen begleitete Jobsuche und schließlich der schwierige Einstand in den Freundeskreis ihrer Schwester, denn auch dort wird über Juliettes wahre Vergangenheit streng geschwiegen. Erst Michel findet die richtige Mischung aus Geduld, Vorurteilslosigkeit und Diskretion, erst ihm kann sie sich öffnen, und nach und nach kann sie sich auch mit Léa aussprechen und am Schluss feststellen: Ich bin noch da. Und mittlerweile ist klar geworden, dass auch Léa ein Mensch mit Ecken und Kanten ist, auch wenn sie zunächst bruchlos die Rolle der jüngeren Schwester einnimmt, die immer im Schatten der Älteren gestanden und stets ihren Schutz und ihre Fürsorge in Anspruch genommen hatte. Juliette begreift, dass nicht nur ihr Sohn und sie selbst Opfer ihrer Tat waren, sondern dass die ganze Familie unwiederbringlich zerstört wurde und dass sich die Eltern nur mit einer rigorosen Verleugnung zu helfen wussten und jeden Kontakt abbrachen. Und dennoch ist es Juliette, die die demente Mutter auf Anhieb erkennt, während Léa für sie eine Unbekannte bleibt.
Diese Szene im Heim ist nur eine von sehr vielen äußerst eindrucksvollen und bewegenden Momenten in diesem großartigen Drama, in dem besonders Kristin Scott Thomas und Elsas Zylberstein als die beiden Schwestern herausragende und bemerkenswert nuancenreiche Darstellungen zeigen, die allein schon Grund genug für den Besuch des Films sind. Aber da ist natürlich noch mehr: Das gesamte Ensemble ist sehr stark, Claudels Drehbuch besticht durch eine perfekt abgewogene Mischung aus schmerzhaften und hoffnungsvollen Augenblicken und vor allem sehr viel Menschlichkeit in allen Ausprägungen. Sein größtes Verdienst ist es vielleicht, dass er bei all den existentiellen Konflikten und Emotionen niemals zu dick aufträgt und in banalen Kitsch abrutscht, sondern stets aufrichtig und ein klein wenig sperrig bleibt. Ich persönlich hätte allerdings gern darauf verzichtet, die genauen Umstände von Juliettes Tat zu erfahren, denn ein klein wenig untergräbt Claudel damit seine eigenen Haltung. Zuvor legt er uns Unvoreingenommenheit und Offenheit Juliette gegenüber ans Herz und verwirklicht dieses Konzept total überzeugend, ganz kurz vor Schluss meint er dann doch noch, sie rehabilitieren zu müssen, in dem er sie erzählen lässt, wie sehr der Kleine an seiner unheilbaren Krankheit gelitten und wie sie ihn letztlich von seinen Leiden erlöst hat, womit aus einem Mord so etwas wie Sterbehilfe oder ein Akt der Gnade geworden ist. Ich persönlich habe diese Gewissheit nicht gebraucht und hätte es vorgezogen, wenn Claudel uns konsequent im Unklaren gelassen hätte, denn so ist es fast wieder einfach geworden, in Juliette einen guten Menschen zu sehen. Dies ist aber nur ein geringeres Manko in einem ansonsten bemerkenswerten, künstlerisch brillanten und sehr gefühlvollen Film, einem der besten intimen Dramen der letzten Jahre. (25.11.)