Blindness (Stadt der Blinden) von Fernando Meirelles. Kanada/Brasilien/Japan, 2007. Julianne Moore, Mark Ruffalo, Alice Braga, Danny Glover, Gael García Bernal, Yusuke Iseya, Yoshino Kimura, Don McKellar, Maury Chaykin
Apokalyptische Szenarien haben irgendwie ihren Reiz, finde ich. Weiß auch nicht wieso, vielleicht weil es so gut in unsere Zeit passt. Apokalypsen können ja ganz verscheiden sein – die spektakulären, die eher dem Selbstzweck dienen und lediglich kommerziell verwertbare Bilder transportieren, und die mit etwas Unterbau, die schon eine politische oder humane oder sonst eine Aussage enthalten. Manchmal geht’s um den Atomkrieg und den Tag danach, manchmal rücken die Außerirdischen an, manchmal grassiert ein Virus, der aus allen Menschen reißende Wüterichs macht, manchmal ist es albern und blöd, mal auch beklemmend und gar nicht so fern, unterhaltsam aber ist es fast immer, außer wenn Hollywood mal wieder zu platt und patriotisch tönt.
Diesmal jedoch geht’s schon ein wenig anspruchsvoller zu: Der Roman eines nobelpreisgekrönten Schriftstellers (José Saramago), ein Regisseur, der mit zwei exzellenten Filmen auf sich aufmerksam gemacht hat („City of God“ und „Der ewige Gärtner“), eine internationale Crew ausgezeichneter Schauspieler und ein Thema, in dem es um nicht weniger als die Condition Humain geht. Was es mit dem Menschen auf sich hat, stellt sich am klarsten in Zeiten der Not heraus. Was zum Beispiel würde wohl geschehen, wenn in einer beliebigen Großstadt innerhalb weniger Tage fast alle Menschen aus ungeklärter Ursache erblinden – würden sich die Menschen wohl ihrer Brüderlichkeit und Nächstenliebe erinnern, einander helfen, füreinander einstehen und sich in Solidarität und Fürsorge der gemeinsamen Bedrohung stellen? Mitnichten: Der Mensch besinnt sich seiner Aggressionen, Ängste und Vorurteile, er plündert, raubt, mordet und brandschatzt, er kaserniert, interniert, terrorisiert und er besinnt sich seines stärksten Triebes, nämlich andere Menschen zu erniedrigen und Macht über sie haben zu wollen. Die Betroffenen werden zunächst weggesperrt, weil die noch Sehenden Angst vor möglicher Ansteckung haben. Das geht so lange, bis auch die erblinden, aber dann ist es zu spät, denn in den Quartieren ist bereits die Hölle ausgebrochen. Statt die Nahrungsrationen gerecht aufzuteilen, bilden sich sofort Gruppen, eine davon kontrolliert das Essen und fordert von den anderen nun Gegenleistungen, erst materielle und später dann, als Geld und Schmuck ausgegangen sind, die Frauen. Missbrauch und Gewalt brechen offen aus, und sogar die Frau, die als einzige sehen kann und bislang darauf bedacht war, den letzten Rest von Menschlichkeit zu erhalten, hat nun kein anderes Mittel mehr las ebenfalls Gewalt anzuwenden. Gemeinsam mit ihrem Mann und einer kleinen Gruppe schlägt sie sich durch eine verwüstete Stadt bis zu ihrer Wohnung, wo sie Unterschlupf finden und versuchen, wieder halbwegs wie Menschen zusammenzuleben. Eines Tages dann aus heiterem Himmel die Umkehr: Ebenso unvermittelt, wie sie einst ihr Augenlicht verloren, gewinnen es die Menschen wieder zurück, und am Ende steht die Hoffnung, dass sie nun endlich zu sehen gelernt haben.
Ja nach persönlicher Veranlagung mag man sich diesem frommen Wunsch anschließen oder auch skeptisch bleiben. Die Parabel von der Menschheit, die erst blind werden muss, um sehen zu lernen, ist schon ein starkes Bild, und was den Zustand unserer Zivilisation angeht, ist jedweder Pessimismus allerdings angebracht, und dennoch habe auch ich mir einen irgendwie versöhnlichen oder jedenfalls nicht gänzlich aussichtslosen Schluss gewünscht, denn die zwei Stunden davor gingen teilweise hart an die Grenze des Erträglichen. Ein bitteres, hartes Lehrstück über die hässliche Fratze des Menschen, der höchstens solange menschlich bleiben kann, wie es ihm selbst gut geht, der aber jederzeit willig und bereit ist, seinen atavistischen, niedrigsten Trieben freien Lauf zu lassen. Die lange Sequenz vom Gruppenleben in dem Internierungshaus steigert sich mit unerbittlicher Spannung hin zu einer Massenvergewaltigung, der ich kaum noch zuschauen konnte. Das Opfer der Frauen, die wie immer die Stärkeren sind in solchen Situationen, die Feigheit und Ohnmacht der Männer und vor allem die demütigende, widerlich zynische Gewalt der Männer (man schämt sich fast seines Geschlechts!) sind so beängstigend intensiv dargestellt, dass man den irrealen Rahmen der Geschichte ganz vergisst und das ganze als zeitlose Lektion über den Verlust jeglicher Moral oder Ethik auffasst. Ich war direkt froh, als der klaustrophobische Rahmen nach quälend langen dreißig, vierzig Minuten oder so endlich geöffnet wurde und die kleine Gruppe hinaus in die Stadt fliehen konnte. Hier gibt es Gelegenheit für ein paar schaurig grässliche Motive, reichlich Endzeitstimmung mit Tod und Plünderung, und die drängende, intensive Dramatik der ersten Hälfte geht hier ein kleines bisschen verloren, was aber kein so großes Problem ist, denn ein wenig aufatmen zu dürfen hat mir persönlich ganz gut getan.
Meirelles ist Experte für starke Impressionen und fiebrige Bilder, und beides kommt hier naturgemäß ausführlich zum Zuge. Als Nichtkenner des Romans kann ich mich über die Qualität seines Films als Romanversion nicht äußern, doch die Qualität als Film an sich ist schon recht bemerkenswert. Die optischen Sensationen drängen sich nie so sehr in den Vordergrund, dass man die Essenz der Geschichte aus den Augen verliert. Die beabsichtigte Aussage ist stets präsent, und dies auch nicht so aufdringlich, dass man vielleicht von erhobenem Zeigefinger oder ähnlichem sprechen könnte, abgesehen vielleicht vom Schlusstext, der uns aus dem Off eingesprochen wird und noch mal die Parabel von den blinden und den sehenden Menschen verdeutlichen soll – ein wenig unnötig vielleicht, denn die Botschaft war auch so klar.
Ob Meirelles nun jede philosophische Tiefe des Romans auslotet, ist mir diesmal mehr oder weniger wurscht. Filme können das sowieso nicht, damit habe ich mich längst schon abgefunden, und solange sie so bild- und ausdrucksstark sind wie der hier, soll es mir recht sein. Lesen kann ich das Buch ja immer noch. (28.10.)