Wolke 9 von Andreas Dresen. BRD, 2008. Ursula Werner, Host Rehberg, Horst Westphal, Steffi Kühnert

   Von Andreas Dresen habe ich überhaupt noch keinen auch nur mittelmäßigen Film gesehen. „Stilles Land“, sein Theaterfilm aus der Nachwendezeit kommt noch etwas spröd und karg daher, doch danach reiht sich ein eindrucksvolles Werk an das andere, und spätestens ab „Nachtgestalten“ oder „Die Polizistin“ würde ich von Meisterstücken sprechen, die sich mit „Halbe Treppe“, „Willenbrock“ und „Sommer vorm Balkon“ zu einer im neuen deutschen Film einmalig langen und qualitativ konsistenten Serie fügen, aus der sogar die skurrile Dokumentation über den Herrn Wichmann von der CDU nicht herausfällt. Zwar gibt es auch Leute wie Petzold, Tykwer, Schmid, Krohmer oder Akin, doch scheint mit auf die letzten zehn Jahre gesehen niemand so konstant auf gleichbleibend hohem Niveau wie Dresen.

   „Wolke 9“ setzt nun die Serie fort und zwar auf denkbar beeindruckend Weise. Wie in vielen seiner Filme gibt es ein Thema, eine Ausgangssituation, von der aus Dresen und sein Team die Geschichte entwickeln, einzelne Situationen erarbeiten, Dialoge improvisieren, die Charaktere formen. Noch radikaler jedoch als „Halbe Treppe“ oder „Sommer 04“ verzichtet Dresen diesmal auf so gut wie jedes verzierende Beiwerk. Er filmt betont kunstlos mit beweglicher Videokamera, vermeidet dramaturgische, manipulative Kniffe, bleibt konsequent und unerbittlich bei drei, vier Personen in ihrer jeweils alltäglichen Umgebung. Da ist auch wieder mein privates Zauberwort, das mich sowieso schon für jeden dieser Filme einnimmt. Dresen bewegt sich mehr denn je in britischer Tradition, ist bei den „kleinen“ Leuten irgendwo in Ostberlin zwischen Zweiraumwohnung, Gartenlaube, Sommerfrische draußen am See und der wöchentlichen Chorprobe irgendwo im Saal. Mehr ist nicht und mehr muß auch nicht sein. Die Geschichte dazu ist die alltäglichste der ganzen Welt: Eine Frau und ein Mann, Inge und Werner, leben seit dreißig Jahren miteinander oder auch nebeneinander her, sie trifft einen anderen, Karl, erlebt mit ihm unerwartet intensive erotische Momente, erfährt eine ganz neue Lebensfreude, ein neues Gefühl und möchte sich diesem Gefühl nicht verschließen. Ihre Tochter rät ihr, die Affäre zu genießen, sie aber nicht an die große Glocke zu hängen, damit der Familienfrieden äußerlich intakt bleibt. Inge kann das aber nicht, sie will dazu stehen, sagt Werner die Wahrheit und tritt eine Lawine los, an deren Ende Werners Selbstmord steht.

   Nichts daran ist neu – die Frau, die aus der gepflegten Routine der längst erkalteten, wenn auch nicht unangenehmen Ehe ausbricht, der Reiz des Neuen, die Macht der Gefühle, der seit langer Zeit nicht mehr gekannten Lust am Sex, und dann die Bitterkeit, die Verletzungen, die Trennung, die Auseinandersetzungen. Inge beteuert die ganze Zeit, dass sie nichts dafür könne und niemandem wehtun wolle, und doch bleibt da ein vor den Kopf geschlagener, tief getroffener und auch mal wütender Mann zurück, der schließlich mit sich und der Einsamkeit nicht zurechtkommt.

 

   Neben den bereits erwähnten künstlerischen Vorzügen hat der Film dennoch zwei Besonderheiten: Dresen und sein Team haben es geschafft, dass man wirklich für jeden der Beteiligten tiefes Verständnis hat und keinen von ihnen verurteilen würde, weder Inge, die endlich mal wieder spontan ihrem Gefühl folgt, noch den drögen, lieben aber mit der Situation überforderten Werner, noch den sympathischen, vitalen Karl, der sich keine Gedanken darüber zu machen scheint, was Inge eventuelle auszuhalten hat, und auch nicht die Tochter, die nach außen die Fassade der intakten Familie aufrecht erhalten möchte, die zwar ihrer Mutter den Spaß gönnt, aber nicht möchte, dass er zu weit geht. In jedem dieser vier kann man sich wieder finden, sie alle kennt man vielleicht auf die eine oder andere Weise selbst aus dem eigenen Umfeld, sie alle werden äußerst realistisch und eindringlich von den fantastischen Schauspielern porträtiert, die nicht nur Mut zur totalen Selbstentblößung zeigen, sondern allem Anschein nach auch sehr viel von sich selbst in ihre Rollen einbringen. Diesen Effekt hat sich Dresen in den oben erwähnten Filmen bereits zunutze gemacht und damit großartige Resultate erzielt. Die zweite Besonderheit, die in allen Presseartikeln als die eigentlich wichtige hervorgehoben wird, ist die Tatsache, dass sich die tragische Dreiecksgeschichte zwischen drei Menschen um die oder über siebzig abspielt. Man erkennt daran, dass gewisse Mechanismen und Gesetze in jedem Alter gelten, Liebe, Trennung und Schmerz erzeugen gewisse Reaktionen, bei Zwanzigjährigen, Vierzigjährigen und eben auch noch Siebzigjährigen. Die Szenen mögen nicht ganz so laut und heftig sein, genauso erbittert und eindringlich und schmerzlich sind sie allemal. Der Sex ist natürlich auch kein cooler, heißer Designersex, sondern Sex zwischen zwei alten, verlebten Körpern. Er kriegt nicht immer einen hoch, kann aber sogar Witze darüber reißen, sie ist auch keine Schönheit im modernen Sinn, aber sie ist aktiv, vital und sieht sich mit ihren eigenen Bedürfnissen konfrontiert, die sie sicherlich in der Intensität seit Jahren nicht mehr gespürt hat. Man sollte sich nicht bluffen lassen und glauben, diese Film drehe sich nur um Sex im Alter, natürlich dreht er sich auch darum, doch er erzählt im Grunde eine universelle Geschichte, die er nur in ein nicht ganz alltägliches Umfeld platziert. Und siehe da: Das Publikum schnappt verlegen nach Luft, verfällt in eisiges Schweigen oder auch hilfloses Kichern, und das nur, weil man zwei alte Leute beim Vögeln, beim Knutschen und sich Ausziehen beobachtet. Sowas gehört sich nicht – oder? Dresen möchte sicherlich bewusst an diesem Tabu rühren, doch er will sicherlich vor allem eine Liebesgeschichte erzählen und zeigen, dass diese Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes alterslos ist. Das ist ihm perfekt gelungen – ein ganz großer Film, der niemanden unberührt lassen wird, der lange nachwirkt und wieder mal zeigt, dass man die besten Themen bei sich selbst oder gleich in der Wohnung nebenan findet und keinesfalls in irgendwelche weit entfernten Galaxien aufbrechen muß. (10.9.)