Berlin 36 von Kaspar Heidelbach. BRD, 2009. Karoline Herfurth, Sebastian Urzendowski, Axel Prahl, Thomas Tieme, August Zirner, Franz Dinda, Maria Happel, Julie Engelbrecht, Klara Manzel, Johann von Bülow, Robert Gallinowski, John Keogh, Otto Tausig

   Berlin 36: Die Vorbereitungen auf die großen Propagandaspiele laufen hochtourig, die Politshow zur Demonstration arischer Übermacht steht in den Startlöchern. Die Amis jedoch trüben die selbstzufriedene Naziidylle und drohen mit Boykott, falls keine jüdischen Sportler im Olympiateam zu finden sind, und schicken Avery Brundage, um die Erfüllung dieser Forderung zu überwachen. In aller Eile einigt man sich auf Gretel Bergmann, die aktuell weltbeste Hochspringerin und als Jüdin natürlich indiskutabel für die Siegernation, weshalb ebenso fieberhaft nach einer konkurrenzfähigen Mitstreiterin gesucht wird. Man findet Marie Kettler – einen Jungen in Mädchenkleidern, Opfer einer psychisch gestörten Mutter, die unbedingt ein Mädchen haben wollte und ihren Sohn deshalb als Mädchen aufwachsen ließ. Zusammen werden sie in die Kaderschmiede verfrachtet und trainiert, wobei Gretel die besonderen Formen rassistischen Mobbings durch ehrgeizige und hochnäsige Konkurrentinnen kennenlernt. Ihr erster Trainer schaut mehr auf den Sport als die Politik, weshalb er bald entlassen und durch einen stramm linientreuen Schergen ersetzt wird. Gretel wird bald klar, dass sie keine Chance auf eine faire Behandlung hat, dennoch wehrt sie sich mutig gegen die Schikanen im Trainingslager, und gleichzeitig entwickelt sich ihre Beziehung zu Marie. Aus anfänglicher Aggression wird langsam die Solidarität zweier Außenseiter, denn auch Marie genau, dass sie von den Nazis erpresst und benutzt wird, und ihr Respekt vor Gretels Können bewegt sie schließlich dazu, dieses Spiel nicht mitzuspielen. Als sich Gretel leicht verletzt, nutzen die Nazis die Gelegenheit, sie nicht in Berlin antreten zu lassen und vertrösten Brundage mit vagen Ausreden. Die Sportfunktionäre setzen ganz auf Marie, doch als es im Hochsprung zur Entscheidung kommt, verweigert sie sich und reißt dreimal die Latte herunter. Im Abspann lesen wir, dass Marie zurückgezogen und vergessen in hohem Alter starb, und dass Gretel und ihre Familie rechtzeitig emigrieren konnten und Gretel heute, fünfundneunzigjährig, in New York lebt. Ein kurzer aktueller Interviewausschnitt zeigt sie, wie sie sich an die Zeit erinnert, charakteristischerweise auf Englisch, da sie seit ihrer Emigration kein Deutsch mehr sprechen wollte.

   Ein ebenso skurriler wie bezeichnender Fall für deutsche Geschichte, die Verbindung von Sport und Politik, die uns seither nicht mehr losgelassen hat und die schon die Nazis für ihre Zwecke einzusetzen gewillt waren – rassistische Propaganda getarnt als fairer Wettkampf und das Bemühen um die Auslese der wirklich besten, der unersättliche Trieb zur Intrige, zur Manipulation, in dem sicheren Bewusstsein, welche Außenwirkung die Olympischen Spiele von Berlin haben würden, und auch in der Gewissheit, dass man es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlauben konnte, eine der Weltmächte gegen sich aufzubringen, und also tat man nach außen hin das Nötigste, um die dummen Amerikaner zu beruhigen und davon zu überzeugen, das im Nazideutschland alles mit rechten Dingen zuging und auch die jüdischen Sportler eine gleichberechtigte Chance zur Qualifikation erhalten würden.

Dass sich Brundage dann letztlich doch übertölpeln ließ, war ebenso folgerichtig wie die Tatsache, dass der tollkühne, aber doch eben nur auf Sand gebaute Plan scheitern musste, hier allerdings ergibt schon die Internetrecherche, dass sich er Film, was denn tatsächlichen Hergang betrifft, vermutlich eher auf Kolportage einlässt. Es ist offenbar nicht bewiesen, dass Marie Kettler alias Doras Ratjen aus eigenem freien Entschluss den Wettbewerb sabotiert hat, es ist noch nicht mal bewiesen, dass sie überhaupt an Bergmanns Stelle aufgestellt war, und auch die behauptete Freundschaft zwischen Marie und Gretel, die schließlich ein Kernelement des Films wird, ist allgemein umstritten und wurde von Gretel Bergmann selbst nie bestätigt.

 

   Das ist aber nicht das größte Problem des Films, der ja dennoch eine spannende und anrührende Geschichte erzählt mit dem Potential für eine tragische Groteske. Das größte Problem scheint mir zu sein, dass sich der Film nicht einigen kann, wessen Geschichte er nun eigentlich erzählen will und wie viel davon, mit dem Resultat, dass wir weder Gretel noch Marie wirklich kennen lernen und über ihr Leben soviel erfahren, wie ihre Biographie dies eigentlich verdient hätte, denn beide sind auf ihre Art beispielhaft für ihre Zeit. Sowohl Gretel als auch Marie werden rasch skizziert, ein paar knappe Familienimpressionen, ein wenig Selbstoffenbarung, das war‘s dann aber auch schon, die wahren Dramen und Tragödien bleiben diffus, der Rest ist recht breit und bieder aufgemachte Historienkolportage mit hervorragenden Schauspielern aber einer Regie, die sich nicht zu irgendeiner Form von eigenständiger Gestaltung bemühen will und mehr oder minder im gängigen TV-Konsens verharrt, was zur bisherigen qualitativ äußerst bescheidenen Filmegrafie des Regisseurs passt und für diesen ernsten und anspruchsvollen Stoff deutlich zu wenig ist. Weder wird die minutiöse Planung der Spiele durch die Partei und ihre Organe ausreichend beleuchtet, noch Maries Werdegang zunächst als Frau und später dann als ärztlich anerkannter Mann oder die Geschichte der Familie Bergmann, die den Nazis noch rechtzeitig entkommen kann. Was nachher so kurz und knapp als Text über den Bildschirm rollt, ist vermutlich noch sehr viel aufregender als das, was wir hier zu sehen bekommen und hätte folglich viel eher als Film herausgebracht werden sollen. Hier gibt’s von allem zu wenig, und wenn Leute wie Karoline Herfurth oder Sebastian Urzendowski nicht so großartig spielen würden, wäre dies eine gänzlich unsehenswerte Angelegenheit, so aber habe ich geduldig einhundert Minuten lang auf etwas mehr Tiefgang und Einsicht gewartet, leider zum größten Teil vergeblich. Und eines war mir auch überhaupt nicht klar – wie hätte irgendjemand diese Marie Kettler auch nur eine Sekunde lang für eine Frau halten können? Urzendowski sieht bei allem Bemühen jederzeit so maskulin aus, dass die Täuschung für mein Gefühl nie glaubwürdig wird. Bilder von Dora Ratjen allerdings weisen zu meiner Überraschung in die gleiche Richtung – auch die wirkt so wenig feminin, dass ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann, dass sie die gesamte Sportöffentlichkeit mehrere Jahre lang täuschen konnte. Doch wie heißt es immer so schön – die wildesten Geschichten schreibt das Leben selbst. Leider ist diesmal der Film dazu auf halber Strecke stehen geblieben, vermutlich weil er einfach den falschen Regisseur hat. (21.9.)