Le premier jour du reste de ta vie (C’est la vie – so sind wir) von Rémy Bezançon. Frankreich, 2008. Jacques Gamblin, Zabou Breitmann, Pio Marmaï, Déborah François, Marc-André Grondin, Cécile Cassel, Roger Dumas
Gute Filme über das sogenannte Leben an sich sind gar nicht so leicht, finde ich. Wie kriegt man die richtige Balance hin, wie kann man die Geschichte einiger Leute so erzählen, dass sie vielleicht zu etwas Allgemeingültigem wird, wie vermeidet man vor allem Sentimentalität – gerade letztgenannter Punkt wird oft zum Verhängnis, jedenfalls nach meiner Erfahrung.
Manchmal kann so ein Film über das sogenannte leben an sich aber auch ganz wunderbar und wirklich berührend im besten Sinne sein, so wie hier. Anderthalb Jahrzehnte ungefähr aus dem Leben einer fünfköpfigen Familie in Paris, Papa Robert ist Taxifahrer, Mama Marie-Jeanne bleibt daheim, zwei ältere Söhne Albert und Raphaël und die Tochter Fleur als Nesthäkchen. Los geht’s mit dem Tod des Familienhundes und dem Auszug des ältesten Sohnes, danach reihen sich in lockerer zeitlicher Abfolge diverse Stationen der Familienchronologie – Fleurs erste Liebschaften, Alberts Hochzeit mit Prune, der Tod des herrischen Opas, Raphs eher orientierungsloses Rumgehänge, bis er schließlich wieder zu Mama und Papa zieht, Mamas Midlifecrisis und zuletzt Papas Tod durch einen Tumor. Ein Kries schließt sich, ein anderer wird eröffnet, denn in der allerletzten Szene erfährt Fleur, dass sie schwanger ist. Und zwischendurch immer wieder Bilder von früher, aus vermeintlich leichteren, schöneren tagen, die noch nichts von all den Problemen wussten, die mit dem Älterwerden, dem Erwachsenwerden einhergehen. Diese Bilder spiegeln sicherlich eine allgemeine Erfahrung und einen emotionalen Zwiespalt wider – zum einen sind sie schön und komisch, zum anderen tun sie auch weh, weil sie uns daran erinnern, dass die Zeit unaufhaltsam vorangeht und nichts je wieder so wird, wie es einmal war. Der große Wunsch, noch einmal die Uhren zurückdrehen zu können, ist ebenso universal und menschlich, ich denke, jeder hat sich schon einmal danach gesehnt und jeder ist schon einmal daran verzweifelt, dass das eben nicht möglich ist. Der Zwiespalt gilt auch für das Verhältnis zur Familie, das hier eigentlich im Zentrum steht. Die Familie ist abwechselnd Schutzraum und Kriegszone, heimeliges Nest und einengende Hölle, je nach Perspektive und aktueller Situation. Das pubertierende und chronisch missverstandene Mädchen möchte am liebsten sofort ausbrechen, der schluffige Mamasohn möchte zurück in den warmen Schoß kriechen, mal sind die Eltern Ratgeber und Freunde, mal sind sie nur nervig, peinlich und uncool.
Zwischen den einzelnen Episoden liegen oft einige Jahre, und man kann daran gut sehen, dass sich manchmal dramatische Veränderungen ergeben und manchmal die Dinge eher konstant bleiben. Zunächst stehen natürlich die Kinder im Mittelpunkt, sie prägen den Alltag mit ihren Themen und Problemen – Pubertät, Abnabelung von Zuhause, Identitätssuche, Berufssuche, Partnersuche -, und manchmal wird’s turbulent, stressig und es kracht gewaltig, zwischendurch allerdings gibt’s auch wieder Augenblicke des Friedens, der Versöhnung. Während Robert bei alledem eher der Fels in der Brandung bleibt, sich als Mensch mit eigenen Bedürfnissen bemerkenswert zurücknimmt und höchstens unter der fehlenden Liebe und Anerkennung durch seinen Vater leidet, kriegt Marie-Jeanne irgendwann die Krise, fängt wieder ein Studium an, flirtet mit einem anderen Mann, will testen, ob sie als Frau noch begehrenswert ist, weil dies natürlich jahrelang kein Thema war und im allgemeinen Familientrubel untergegangen ist. Robert seinerseits tritt erst ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als es zu spät ist, als die tödliche Krankheit diagnostiziert ist, und erst jetzt erinnert man sich der gemeinsam erlebten Zeit, wird sich vielleicht auch bewusst, was man versäumt hat, wie oft man nebeneinander her gelebt und nicht auf sich achtgegeben hat. Dieser Schmerz ist wenigstens genauso groß wie der Schmerz über den Verlust, und er wird hier in nur wenigen Szenen sehr eindringlich gezeigt.
Rémy Besançon trifft die oben genannte Balance perfekt – all die Erlebnisse und Ereignisse sind zugleich höchst individuell und universell, alle werden von der Familie persönlich durchlebt, und dennoch wird sich der Zuschauer in so gut wie jeder Episode wiederfinden, sofern er selbst Kinder hat. Dieses Wiedererkennen hat einen bittersüßen Beigeschmack, und dieses Gefühl verfolgt einen durch den gesamten Film. Es gibt wunderbar komische und warme Momente und es gibt traurige und bittere Momente, sie alle für sich sind sehr wahrhaftig, sie gehören auf jeden Fall zusammen, denn es gibt nicht das eine ohne das andere, und in allen Fällen wurden Kitsch und falsches Pathos sorgsam vermieden. Dies ist neben der großartigen Warmherzigkeit die herausragende Stärke des Films, denn wie oft schon wurden solche Familienchroniken mit Schmalz und Sülz verkleistert. Hier gibt’s viel Tempo und Temperament, natürlich auch viel französisches Lebensgefühl, viel liebenswürdigen Umgang mit menschlichen Macken und Schwächen, aber dennoch bleiben traurige und schwere Momente traurig und schwer und werden nicht zu schnell übergangen. Das Ensemble spielt wunderbar zusammen, der Soundtrack hält ein paar nette Schmankerl für Fans bereit, und fast zwei Stunden gestalten sich extrem unterhaltsam, kurzweilig und emotional tatsächlich sehr berührend. Auch ein Brummelfisch wie ich wird danach in Bezug auf seine eigene Familie vermutlich wieder etwas milder gestimmt sein, und damit wäre doch schon viel erreicht. (24.4.)