Das weiße Band von Michael Haneke. BRD/Österreich/Frankreich, 2009. Christian Friedel, Leonie Benesch, Burghart Klaußner, Ulrich Tukur, Susanne Lothar, Rainer Bock, Steffi Kühnert, Ursina Lardi, Gabriela Maria Schmeide, Birgit Minichmayr, Josef Bierbichler. Detlev Buck, Maria-Viktoria Dragus, Leonard Proxauf, Branko Samarovski, Ernst Jacobi

   Am Ende des Films, nach fast zweieinhalb Stunden strengsten Exerzitiums, schließt sich die Geschichte und bleibt andererseits auch offen: Ein Thronfolger wird in Sarajewo erschossen, und plötzlich dringt auch in die mecklenburgische Provinz das Gerücht vom bevorstehenden großen Krieg, was nichts anderes bedeutet, als das jene Menschen, denen wir nun zugesehen haben, auf irgendeine Weise in diesen Krieg einfließen werden, und vor allem auch die Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren, in den Krieg einfließen. Was daraus geworden ist, wissen wir aus der Geschichte, dennoch ist die eine vorausdeutende Geste des Films, der uns anhält, gerade darüber nachzudenken. Und natürlich auch darüber, dass aus den Kindern, denen wir hier zusehen, fünfzehn, zwanzig Jahre später sehr wahrscheinlich Anhänger eines Systems wurden, das sehr ähnlich jenem war, in dem sie aufwuchsen. Film also, über den man nachdenken muss, ein Film, der diesen Anspruch laut und deutlich formuliert (typisch für Michael Haneke), ein Lehrstück in jedem Sinne des Wortes, mal erhellend, mal belehrend, schwierig, sperrig und faszinierend zugleich (auch typisch für Michael Haneke!).

   Ein kleines Bauerndorf als Mikrokosmos – der Gutsherr residiert nach Gutsherrenart, es gibt den Lehrer, den Pfarrer, den Doktor und das arme Bauernvolk, es gibt dominante Männer, geduckte Frauen und fast im Hintergrund, dennoch stets präsent, die Kinder, die gelöst von den Erwachsenen ihr eigenes Leben zu führen scheinen, die zwar oft im Bild zu sehen sind, deren tatsächliches Wirken bis zum Schluss jedoch etwas diffus und zunehmend beunruhigend bleibt.

   Wir sehen die schüchterne Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer und dem jungen Kinderfräulein aus dem Nachbarort, doch drumherum ist wenig Liebe, genauer gesagt, gar keine Liebe. Stattdessen: Autorität, protestantische Disziplin, preußisches Obrigkeitsdenken, Gewalt in vielen erdenklichen Formen, von den ganz handfest physischen Erscheinungen bis hin zu grausig seelischer Tyrannei. Der Pfarrer, der seine Kinder unfassbar schikaniert, ein Arzt, der seine Geliebte unfassbar demütigt und seine Tochter missbraucht, der Gutsherr, der in kalter Distanz zu Frau und Kind residiert, und daneben dann auch noch die prügelnden, brüllenden und dumpf brutalen Männer aus den Scheunen nebenan. Das Machtgefälle von Mann zu Frau ist frappierend, der Missbrauch desselben ebenso, und auch das fast willenlose Sichfügen der Opfer, die allzu selten aufbegehren. Als dann spät der Lehrer Verdacht schöpft und die sich häufende Zahl von Gewalttaten und Überfällen mit den Kindern in Verbindung bringt, ahnt man, ohne es wirklich zu wissen, dass die Kinder, anders als ihre Mütter und großen Schwestern, nicht geneigt sind, sich widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen. Sie inszenieren eine Form der Anarchie, eine höchst heimtückische und grausame allerdings, die von hinterhältig gespannten Stolperfallen bis hin zu brachial brutalen Übergriffen auf andere wehrlose Kinder reicht und die Dorfbewohner in Angst und Schrecken versetzt. Das allgemeine Klima ist dennoch wenig aufgewühlt und wach, viel eher dumpf und paralysieret, kaum etwas scheint sich zu bewegen, ein jeder hegt seine eigene kleine Diktatur in den eigenen vier Wänden, die Herren exerzieren ihre Variationen von Erniedrigung und Unterdrückung, und unter dieser Last zerbricht folgerichtig jede Gemeinschaft. Haneke gelingt es enorm brillant, diese Atmosphäre durchgängig spürbar, fassbar zu machen, die dunklen Abgründe hinter der friedvoll-bukolischen Fassade, die grausame Kälte der strafenden Väter und Ehemänner, das spiralförmige Miteinander von Furcht, Elend und Gewalt, das natürlich immer einen idealen Nährboden für totalitäre Ideen und Regimes abgibt. Es werden weniger Individuen inszeniert, als vielmehr ein Kollektiv, trotz der illustren Darstellerriege weniger starke Einzelporträts, als vielmehr ein zwingend konsequentes, bis ins letzte Detail plastisch und drastisch ausgemaltes Gesellschaftsbild, das es uns natürlich leichtmacht, die Gedankenverbindung zum Faschismus herzustellen, zumal hier ja bereits hinreichend faschistoide Strukturen geschaffen wurden, die später nur ins große Ganze übertragen werden mussten.

 

   Natürlich – und darin liegt wohl zuerst das Lehrstückhafte dieses Films – geht von den Figuren hier etwas Statisches, Lebloses aus, stehen sie eher für etwas Allgemeines als für sich selbst, sie stellen etwas aus, zeigen etwas, sie leben kaum aus sich heraus, können erst recht kein Eigenleben entwickeln, weil sie einzig den Absichten des Regisseurs dienen müssen, und so sehr man dies einerseits als Bevormundung und Einengung empfinden kann, so sehr muss ich doch Hanekes Könnerschaft bewundern und auch seine resolute Entschlossenheit, den einmal eingeschlagenen Weg auch gegen diejenigen durchzusetzen, die ihm immer wieder seine didaktische, etwas gespreizte und von mir aus auch etwas blasierte Haltung vorgeworfen haben. Auch hier ist es nicht für jeden möglich, den distanziert-kühlen Blick des Analytikers und die daraus resultierende Emotionslosigkeit seiner Analyse zu ignorieren, doch rigoros wie Haneke ist, stellt er jeden Konsumenten vor die Wahl, sich entweder darauf einzulassen oder gleich wegzubleiben. Gefälliges Kino hat der Mann noch nie gemacht und sich stets explizit und dezidiert von so etwas abgegrenzt, es ist ihm immer um eine Aussage zu tun gewesen, und da gibt es schon einen Haufen Leute, die so was gar nicht mögen, dass jemand nämlich einen Standpunkt hat und den auch öffentlich und selbstbewusst vertritt, gelegentlich unter Zuhilfenahme sehr drastischer Methoden. Diesmal gibt’s (gottlob) keinen Hie in den Magen wie etwa in „Funny Games“ oder „Bennys Video“, die Aussage ist allerdings nicht weniger einprägsam, im Gegenteil, sie wirkt noch eindrucksvoller, weil sie sich in aller Ruhe entwickelt und bis auf ein paar kurze Schocks her aus der allgemeinen Atmosphären entsteht. Großartig ist dabei die kunstvolle Fotografie in schimmerndem, fantastischem Schwarzweiß, auf der großen Leinwand ein seltener Genuss, großartig ist auch die Qualität des Ensembles und das bewährt unerbittliche Zielbewusstsein des Autoren und Regisseurs, der uns zwar an sich gar nichts Neues sagt – Gewalt entsteht fast immer aus Gewalt -, das jedoch auf eine Weise, die den Film sicherlich zu einem der Ereignisse des Jahres macht, an dem man nicht einfach vorübergehen sollte.  (4.11.)