Changeling (Der fremde Sohn) von Clint Eastwood. USA, 2008. Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan, Michael Kelly, Jason Butler Harner, Colm Feore, Devon Conti, Eddie Alderson

   Dieser Film ist die perfekte Illustration der banal wirkenden Weisheit vom Leben, das oft abenteuerlicher ist als jede nur erdenkliche Schauermär. Und wirklich: Für solch ein Buch würde ein Autor zumindest gekreuzigt und hanebüchener Kolportage bezichtigt werden, doch im Vorspann steht der kleine Satz, der solcher Kritik sogleich den Wind aus den Segeln nimmt: Eine wahre Geschichte. Anders kann es auch nicht sein – nicht mal der skrupelloseste RTL-Schreiberling würde sich vermutlich trauen, mit so was an die Öffentlichkeit zu gehen, solche Geschichten schreibt wirklich nur das Leben.

   L.A. im Jahr 1928: Der neunjährige Walter Collins verschwindet eines Tages spurlos. Mutter Christine sucht verzweifelt, und als im Sommer plötzlich im weit entfernten Illinois ein Junge auftaucht, als ihr Sohn identifiziert und unter großem öffentlichen Trara nach Haus gebracht wird, freut sich die Presse auf ein schönes Happy End auf der Titelseite. Christine aber sieht den Jungen und sagt sofort: Das ist nicht mein Sohn. Die Öffentlichkeit ist irritiert, vor allem das LAPD, das sich mit der erfolgreichen Suche lautstark gebrüstet hat und dies aus gutem Grund, denn seit längerem steht die Behörde in dem unguten Ruch, eine Bande korrupter, willkürlicher, gewalttätiger Schläger zu sein, und nun will man den Fall Collins zur Imagepolierung benutzen. Christine beharrt gegen jeden Einflussversuch auf ihrem Standpunkt, kann ihren Zahnarzt, eine Lehrerin und den eigenen Augenschein zum Beweis heranziehen, denn der neue Walter ist plötzlich um zehn Zentimeter kleine als der alte und er ist beschnitten. Der Druck der Polizei nimmt zu, man will um jeden Preis den Erfolg feiern und schreckt vor keiner Einschüchterung zurück, eine perfide Intrige gegen die starrsinnige Mutter wird inszeniert, nur der Pfarrer Briegleb, ein Querulant und von jeher harscher Kritiker der Polizei. Schlägt sich auf ihre Seite. Als die Situation zu eskalieren droht und Christine partout nicht klein beigeben will, weist man sie kurzerhand in die Psychiatrie, konstruiert rasch einen Code-12-Fall, so wie man es mit vielen anderen schon gemacht hat, und sperrt die Aufsässige weg, setzt sie unter Medikamente, droht gar mit Elektroschocks, um ihren Willen zu brechen. Parallel dazu jedoch wird fast zufällig auf einer Farm weit draußen im Niemandsland ein ungeheuerliches Verbrechen aufgedeckt, der barbarische Mord an bis zu zwanzig Jungen, unter denen sich vermutlich auch Walter befunden hat. Als dann der falsche Walter seinen Betrug eingesteht, dreht sich die öffentliche Meinung drastisch gegen das LAPD, und angeführt von Briegleb und einem ebenso eloquenten Rechtsanwalt kommt es zu einer massiven Kampagne, an deren Ende Christines Rehabilitierung und die Suspendierung maßgeblicher Funktionsträger kommt. Doch für Christine bleibt noch immer die Ungewissheit in Bezug auf ihren Sohn, und auch hier wird sie bis zuletzt zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissen.

   Man muss die Story etwas ausführlicher erzählen, denn sie häuft dermaßen krasses Schicksal auf, dass es kaum zu fassen ist. Die tragische Geschichte der Christine Collins überlagert sich mit den grausigen Wineville Chicken Coop Murders, ein weiteres Kapitel kranken Mordwahns, wie er vermutlich nur in diesem monströsen Land der im wahrsten Sinne des Wortes „unbegrenzten Möglichkeiten“ vorkommt. Und gerade als der ahnungslose Zuschauer annimmt, es gehe nur um den Kampf einer Mutter um ihr Kind und um ihr Recht, höchstens noch um den Kampf einer Frau gegen eine übermächtige, korrupte und brutale Polizeibehörde, da bricht plötzlich bleischwer der Horror ins Geschehen und sorgt im Publikum für blankes Entsetzen. Wie Eastwood das hinbekommt, diese totale Wendung, die natürlich auch eine radikale Änderung des Erzähltons nach sich zieht, gehört zu seinen bislang besten Leistungen als Regisseur, wie überhaupt der gesamte Film sicherlich zu seinen absolut besten gehört, schon weil er wundersamerweise fertigkriegt, das ganze unerhörte Drama nicht in Pathos oder Kitsch absaufen zu lassen. Seine größte Stärke, die auch schon manch anderen seiner Filme gerettet hat, besteht gerade in seiner sehr ruhigen dezenten, unspektakulären Erzählhaltung, und hier spielt er sie zur Vollendung aus – unerbittlich und gründlich wird die Eskalation betrieben, wird die Schraube der Verzweiflung, des Schreckens angezogen, bis man sich buchstäblich nach einem Lichtstreif am Horizont sehnt. Er kommt auch tatsächlich – Christines Befreiung aus der Psychiatrie und ihre folgende Rehabilitierung -, doch wird früher oder später wieder daran erinnert, dass ihr einziges Interesse trotz allem darin besteht, Gewissheit über Walters Verbleib zu haben, und hier ist sie bereit, sich an jeden Strohhalm zu klammern, ist gar bereit, den kranken Massenmörder Northcott kurz vor der Hinrichtung in San Quentin zu besuchen, um doch noch die Wahrheit zu erfahren, und als später ein Junge auftaucht, der von der Farm fliehen konnte und berichtet, wie Walter bei dem Fluchtversuch für ihn sein Leben aufs Spiel setzte, geht der zermürbende Kreislauf wieder los, und wie man aus dem Abspann erfährt, hat Christine diese Hoffnung niemals aufgegeben.

   Der Film funktioniert auf vielen Ebenen – als bestürzendes, erschütterndes Drama, als finsteres Kriminalstück, als Zeitbild der späten 20er inklusive deutlicher Kritik an behördlicher Willkür und Allmacht, denn was sich gerade auf diesem Gebiet abspielt, ist schon starker Tobak und wird alles andere als beschönigt. Interessanterweise wird nicht der Versuch unternommen, uns Christine Collins besonders nahe zu bringen oder gar als Identifikationsfigur anzudienen, im Gegenteil, Eastwood bleibt respektvoll auf Distanz und auch Angelina Jolie, gegen die ich stets größte Vorbehalte hege, legt die Collins in ihrer beachtlichen Darstellung eher dezent, fast ein wenig kühl an als eine Frau, die entgegen gesellschaftlicher Normen ihre Rolle als alleinerziehende Mutter bewältigen und zugleich erfolgreich im Job sein will, die aber kaum Freunde oder familiären Rückhalt zu haben scheint und deshalb besonders stark auf Walter fokussiert ist. Sie ist abwechselnd die unbeirrt suchende und in ihrer Unbeirrbarkeit auch verstörend starke Frau und dann wieder Objekt der behördlichen Intrigen und des Versuchs, auf Kosten eines publicityträchtigen Schicksals den eigenen Namen reinzuwaschen. Wie Eastwood diese verschiedenen Elemente organisch und souverän unter einen Hut gekriegt hat, das ist auch hohe Regiekunst.

 

   Alles in allem ein starkes, in vieler Hinsicht unvergessliches Stück Hollywood Babylon, brillant geschrieben und inszeniert, stark in der Atmosphäre, und wenn der Eastwood zwischendurch nicht immer so komisches Zeug machte, könnte er echt eine sichere Bank für klassisches, hochklassiges Kino sein. (29.1.)