The Reader (Der Vorleser) von Stephen Daldry. England/BRD, 2008. Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes, Bruno Ganz, Lena Olin, Susanne Lothar, Matthias Habich, Karoline Herfurth, Hannah Herzsprung, Burghart Klaußner, Alexandra Maria Lara

   Die erste Liebe eines Fünfzehnjährigen zu einer doppelt so alten Frau, die ihn in die Geheimnisse der Sexualität und auch die Geheimnisse der Frauenwelt einweiht – klingt banal und ist es auch, und damit es eben nicht so banal wird, peppt der Autor Bernhard Schlink das Ganze mit Geschichte auf, genauer gesagt dem Holocaust, an dem Hannah Schmitz beteiligt war als KZ-Aufseherin, und dem Geheimnis, das sie bewahrt, auch vor Michael, der erst Jahre später als Jurastudent und Teilnehmer an Kriegsverbrecherprozessen die Wahrheit erfährt. Der erwachsene Michael erinnert sich vierzig Jahre später an alles, nun selbst Familienvater und etablierter Anwalt, er erinnert sich auch, wie er noch einmal Kontakt aufnahm zu Hannah, die aufgrund eines Justizirrtums zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurde. Michael hätte den Irrtum aufklären und das urteil beeinflussen können, tat es aber nicht, und nun wird er noch einmal zu ihrem Vorleser, schickt ihr besprochene Bänder in die Zelle, so wie er ihr einst aus Büchern und Theaterstücken vorlas, weil sie das so liebte. Hin und her geht die Erzählung zwischen den Fünfzigern im Nachkriegsdeutschland und den Jahrzehnten danach bis ins moderne Berlin, doch wirklich stark und eindrucksvoll fand ich nur die Szenen des jungen Michael, der dieser spröden, unzugänglichen Frau verfallen ist, mit gleichaltrigen plötzlich nichts mehr anfangen kann und durch die Erfahrung um Jahre reift und wächst. Das ist toll gespielt und gestaltet und einfach eine schöne Geschichte, während ich mit zunehmendem Maße leider ein wenig den Kontakt zu den Personen verlor, je breiter sich das Spektrum auffächerte.  Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, Michaels Leben im Studentenmilieu, später sein Leben als Erwachsener, all dies hat nicht mehr die Eindringlichkeit der frühen Szenen, und vielleicht steckt dahinter auch eine Absicht, denn wenn man den älteren Michael betrachtet, versteht man, dass ein teil von ihm mit seiner Beziehung zu Hannah gestorben ist, er wirkt selbst leblos, halbwegs erloschen, und Ralph Fiennes ist einerseits natürlich genau der richtige Darsteller für diese Rolle, andererseits aber empfand ich ihn als zu entrückt, zu distanziert, so wie die gesamte zweite Hälfte des Films. Die großartig spielende Kate Winslet wird unter einem aufdringlichen Make-up begraben, der nicht minder beeindruckende David Kross verbirgt sich unter einer bleichen, frustrierten Maske, es geschieht zwar allerhand und die Leinwand ist mit einer Menge höchst illustrer Personen bevölkert, doch zum Kern der Sache, zur Liebe zwischen Michael und Hannah, findet die Geschichte irgendwie nicht mehr zurück, wir hören von Hannahs Selbstmord in der Zelle, erleben Michaels Begegnung mit einem Opfer von einst, sehen seinen Versuch, seiner Tochter die ganze Geschichte zu erzählen, doch so recht bewegt hat mich das nicht mehr – liegt wahrscheinlich an mir!

 

   An Produktion und Regie ist nicht auszusetzen – zwei höchst prominente Kameramänner teilen sich den Job (die Herren Deakins und Menges nämlich), die leider beide verstorbenen Herren Pollack und Minghella tauchen ein letztes Mal als Produzenten auf, Stephen Daldry hat mit „The Hours“ schon gezeigt, dass er für komplexe und anspruchsvolle Literaturfilme gut geeignet ist, und die Schauspieler sind wie erwähnt sämtlich ausgezeichnet. Mein privater Verdacht ist, dass der extrem populäre Roman schon so seine Macken hat und nicht umsonst hatte ich bisher kein Interesse daran, ihn zu lesen. Der Film, so kompetent er auch gemacht sein mag, schafft es nicht durchgehend, zu mir als Zuschauer durchzudringen und mir eine Substanz anzubieten, die über die Liebesgeschichte hinausweist. Und warum auch – eine gut erzählte Liebesgeschichte hätte womöglich auch gereicht! (4.3.)