Entre les murs (Die Klasse) von Laurent Cantet. Frankreich, 2008. François Bégaudeau, Nassim Amrabt, Laura Baquela, Juliette Demaille, Dalla Doucoure
Eine Mittelschule im 20. Arrondissement (Ménilmontant), im Osten der Stadt, bevölkerungsreich, dicht besiedelt, und ethnisch äußerst bunt gemischt. Davon legt auch die Schule Zeugnis ab, und auch die Klasse 7, die François Marin als Französisch- und Klassenlehrer im neuen Schuljahr übernimmt. Fast alle denkbaren Hautfarben sind hier vertreten, Menschen aus vier Kontinenten, von den Antillen über Afrika, China bis nach Europa, die unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen. Ein Schuljahr lang versucht er, mit ihnen klarzukommen, sie zu motivieren, sie zu erreichen, ihnen vielleicht auch etwas beizubringen. Man sieht ihn vor allem in der Klasse selbst, aber auch im Gespräch mit den Kollegen, beim Elternabend, in der Schulkonferenz oder schließlich im Disziplinarausschuss, wo über Verbleib oder Verweis eines besonders aufsässigen Burschen entschieden wird. Über zwei Stunden lang bleiben wir in der Schule, innerhalb der Wände des Originaltitels, zumindest innerhalb der unbehausten Betonwände des Schulhofs, verlassen sie niemals, es gibt nur ganz weniger Momente der Ruhe, Zeit zum Atemholen und dann geht’s wieder rein in die Schlacht, in die nächste Stunde in die nächsten Auseinandersetzungen.
François Bégaudeau ist (oder war) selbst Lehrer, hat ein Buch gleichnamigen Titels verfasst und nun zusammen mit Cantet den Film konzipiert, und was die beiden und all die anderen Laien, Lehrer, Schüler und Eltern, auf die Beine gestellt haben, ist schlicht sensationell. Es ist dies die große und von nur ganz wenigen beherrschte Kunst, über zwei Stunden nichts als Alltag zu zeigen und diesen Alltag so spannend und interessant darzustellen, dass ich persönlich gern noch ein paar Stunden länger zugesehen hätte. Das geht nur, wenn der Alltag als essentiell, beispielhaft erscheint, wenn die gezeigten Situationen und Vorgänge elementare menschliche Erfahrungen berühren, wenn das scheinbar Gewöhnliche, Unspektakuläre transzendiert wird. All dies ist hier großartig gelungen, umso mehr, als Schule gerade für Familien ziemlich stark in den Fokus geraten ist. Themen wie Zusammensetzung der Klassen, soziale Konflikte, Qualität des Unterrichts, Konkurrenz und Kooperation Schule – Elternhaus, Vorbereitung der Schüler auf die berufliche Zukunft usw. beschäftigen mich zwölf oder gar dreizehn Jahre lang, und es ist gleichsam gut und wichtig, gelegentlich mal die Gegenseite, in diesem Fall die Lehrer, zu Wort kommen und auch ihre Perspektive gelten zu lassen.
Dieser Film nimmt weitgehend diese Perspektive ein – François ist die zentrale Position, ist in fast allen Szenen präsent. Mit ihm gemeinsam betreten wir am ersten Schultag die Schule, lernen Kollegen und später die Schüler kennen, mit ihm erhalten wir den ersten Überblick über kommende potentielle Schwierigkeiten, über kommende potentielle Kontrahenten, und wir ahnen auch, mit welcher Strategie er ihnen beizukommen versuchen wird. Sein Vorhaben, nicht gleich den Disziplinarkatalog anzuwenden, stößt nicht bei allen Kollegen auf Zustimmung, und als er zuletzt selbst in Schwierigkeiten gerät und Farbe bekennen muss, droht die Strategie auf ihn zurückzufallen. Der Ausklang ist bitter: Der aufmüpfige Schüler wird der Schule verwiesen, ihm droht im schlimmsten Fall eine Rückkehr in die Heimat Mali, und dennoch ist nichts gewonnen, denn der Knabe wird nach der Bestrafung eher noch zorniger werden, und auch François weiß, dass die Schule im Grunde nur die strukturelle Hilflosigkeit der Erziehungsbehörde an den Schülern abreagiert. Und natürlich ist es oft unglaublich schwer, ruhig und gefasst und fair zu bleiben angesichts der Provokationen, denen sich die Lehrer ausgesetzt sehen, und wem es gelingt, trotz und alledem noch so etwas wie konstruktive Gespräche in Gang zu halten, den Kids irgendetwas Bleibendes zu vermitteln und sich selbst stets unter Kontrolle zu haben, der verdient es schon, ein Held genannt zu werden. François ist kein solcher Held, ihm unterläuft ein böses Wort und damit hat er verloren, hat vor allem den Respekt der Kids verloren und muss sich nun wirklich abrackern, um wieder an sie heranzukommen. Wer ihn jedoch dafür verurteilen wollte, müsste sich schon selbst für ein Jahr in eine ähnliche Situation begeben und würde danach vermutlich anders denken. François weiß auch, dass Integrität und Humanität oft als letztes bleiben, wenn schon alle pädagogischen Ansprüche über den Jordan gegangen sind und das Curriculum längst vergessen ist. Das Klischee, dass Lehrer heutzutage viel eher Sozialarbeiter sind, trifft in diesem Milieu in vieler Hinsicht zu, und dennoch zeigt auch François das deutliche Bestreben, sich abzugrenzen und nicht für alles und jedes die Verantwortung zu übernehmen. Er kann die Probleme der Afrikaner nicht lösen, auch nicht die der Algerier oder Chinesen, und manchmal kann er gar nicht anders, als sich abzuschotten und auf Regeln und Vorschriften zurückzuziehen, auch wenn er weiß, dass er damit teilweise aufgegeben hat.
Man könnte argumentieren, da es sich bei allen Laien um Lehrer und Schüler handelt, sei das Zustandekommen eines solch großartigen Films kein Wunder, aber gerade das ist es doch, denn es geht ja auch darum, das Material zu strukturieren, die Improvisation zu kanalisieren und vor allem die wirklich entscheidenden Momente festzuhalten und zu montieren. Und man braucht schon ein ziemlich gutes Gefühl und Händchen, um all diesen heterogenen, alles andere als stromlinienförmigen Schülerhaufen dazu zu bringen, do begeistert mitzumachen und dabei so natürlich und total echt zu bleiben. Selten vergehen hudnertdreiß0ig Minuten so schnell wie diesmal, ein absolut faszinierendes Kinoereignis, völlig zurecht der Cannes-Sieger vom letzten Jahr und schon jetzt mit Sicherheit einer der Kandidaten für die diesjährige Top 20. (18.1.)