Die Perlmutterfarbe von Marcus H. Rosenmüller. BRD, 2008. Markus Krojer, Dominik Nowak, Zoë Mannhardt, Benedikt Hösl, Thomas Wittmann, Siggi Zimmerschmied, Brigitte Hobmeier, Paul Beck, Gustav Peter Wöhler, Josef Hader
Nach dem Roman, den Anna Maria Jokl im Prager Exil Ende der 30er Jahre schrieb und der erst zehn Jahre später veröffentlicht wurde, einem „Kinderroman für fast alle Leute“, wie sie selbst ihn betitelte, entstand Rosenmüllers bislang ambitioniertester und in vieler Hinsicht auch bester Film. Nicht gerade sein leichtester natürlich, und wer wie ich seine Kinder ins Kino lockt, indem er ihnen eine Komödie à la „Wer früher stirbt…“ verspricht, wird irgendwann nach einer Stunde merken, dass nicht jeder auf die teilweise etwas schwierige und anspruchsvoller Geschichte eingehen kann (oder will), obwohl ich doch glaube, dass die Essenz bei vielen jüngeren Zuschauern sehr wohl ankommt. Gerade dafür ist Rosenmüller genau der richtige Regisseur, denn er hat schon früher hinreißende Komik mit Tiefgang verknüpft und auch jener erreicht, die sonst eher im Pixelland oder im Star-Wars-Universum beheimatet sind.
Ein bayerisches Provinzstädtchen Anfang der 30er ist Schauplatz einer Erzählung, die tief in der damaligen Lebenswirklichkeit verwurzelt ist und sich dann Schritt für Schritt an die beängstigende Zukunft heranarbeitet, um in einer Utopie zu enden, die leider im echten Leben nicht stattgefunden hat. Eine kleine Schule, viele Kinder aus sehr einfachen Verhältnissen, und die werden noch schlechter, weil gerade das lokale Stahlwerk abgewickelt wird und damit viele Väter in der Arbeitslosigkeit landen. Der Mann, der für die Abwicklung zuständig ist, hat viel zu tun und ist unterwegs landauf landab. Sein Sohn, der lange Gruber, zieht ebenfalls von Schule zu Schule und landet diesmal in der Klasse A, die sich eine Dauerfehde mit der B liefert, eine Fehde, deren Ursache wie immer einige Generationen zurückliegt, die nach festen Regeln ausgetragen wird und die im Grunde harmlos ist. Erst eine Kette zufälliger Ereignisse, in die zumeist unser Held Alexander verstrickt ist, bringt den Ball ins Rollen, und zwar nicht, weil die Ereignisse an sich so schwerwiegend wären, sondern weil der lange Gruber sie für seine infame Intrige benutzt. Er bringt Alexander in seine Abhängigkeit, erpresst von ihm Gefälligkeiten und Gefolgschaft, hetzt die beiden Klassen richtig gegeneinander auf und gründet einen eigenen Klub, dessen autoritäre Strukturen und totalitäres Weltbild das vorwegnehmen, was einige wenige Jahre später über das Land hereinbrechen sollte. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, die Freunde unserer Feinde sind auch unsere Feinde und so weiter. Völlig gegen seinen Willen findet sich Alex in dieser martialischen Bruderschaft wieder, die bezeichnenderweise braune Halstücher trägt, getrennt von seinem besten Freund und seiner Lotte, die er von weitem anschmachtet und von der er sich nun zu entfremden droht. Hinzu kommt noch die Baustelle Familie. Er lebt mit seiner Mutter allein, glaubt den Vater tot und findet später heraus, dass die Mutter ihm nicht die Wahrheit gesagt hat. Kurz bevor alles für ihn zusammenbricht und der im totalen Chaos versackt, rafft er sich zu einer mutigen Rettungsaktion gegen die Bande Grubers auf und später dann zu einer noch viel mutigeren Aktion, als er anlässlich einer Preisverleihung in der Schule vor versammelter Mannschaft ein paar Fakten zurechtrückt, um Entschuldigung für Lügen und Fehler bittet, wieder auf seinen besten Freund zugeht, Lotte seine Liebe gesteht, sich klar und deutlich von Grubers mieser Gesinnung distanziert und stattdessen für Freundschaft und Zusammenhalt plädiert. Eine fürwahr große Geste, von der man sich nur gewünscht hätte, sie wäre auch in der großen, realen Politik passiert, nur ist gerade das leider nicht geschehen.
Kein leichtes Unterfangen, die verschiedenen Motive stimmig unter einen Hut zu kriegen und sie dann auch noch einer Zielgruppe anzudienen, die nicht gerade im Umgang mit solch komplexen Themen geübt ist. Rosenmüller hat großartig hingekriegt, wie ich finde, und er hat dies geschafft, ohne sich seinem Publikum anzubiedern oder große Kompromisse eingehen zu müssen. Oder jedenfalls kommt es mir so vor, wer weiß, ich habe mir das Buch gleich bestellt und werde dann mal vergleichen. Der Film ist leicht, poetisch und komisch, wo er es sich leisten kann, und er wird bitter ernst, wenn es langsam eng wird für Alexander, wenn sich der Kreis um ihn unerbittlich schließt und es kaum noch einen Ausweg zu geben scheint, außer eben dem einen, endlich reinen Tisch zu machen und allen die Wahrheit zu sagen, mit allen Konsequenzen, die das haben könnte. Dieser Vorgang wird dermaßen intensiv geschildert, zusätzlich befeuert durch Wunsch- und Angstvisionen Alexanders (die uns wiederum stark an „wer früher stirbt…“ erinnern), dass die Beklemmung im Saal schon ganz schön steigt und Erleichterung und Freude über seinen grandiosen Befreiungsschlag um so größer sind. Die Raufereien der Jungs, die schrägen Erfindungen des obligatorischen Brillenträgers (den es in jeder Geschichte wie dieser geben muss), das erste Schielen auf die bezopfte Weiblichkeit (die natürlich auch sofort zurückschielt und erste Spielchen testet), die skurrilen Lehrer, der ernüchternde Familienalltag zwischen ärmlicher Stube, den unerreichbaren Leckereien im Schaufenster der lokalen Konditorei und dem drohenden wirtschaftlichen Niedergang (Stichwort „Abwicklung“), all dies bildet einen recht vertrauten Hintergrund für eine Parabel auf die Entstehung des Faschismus im Kleinen, wenn man so will. Es geht hier natürlich nicht um Politik im gewohnten Sinne, sondern um den Faschismus im Privaten, also um die Keimzellen, die den Faschismus im Großen erst möglich gemacht haben. Wir sehen, wie gefährlich es ist, gewisse Verhältnisse und Ereignisse auszunutzen, um Gruppen zu isolieren, zu polarisieren, Gräben zu schaffen, Grenzen zu ziehen. Die verlockende Anziehungskraft von Parolen, von Zusammengehörigkeit, Identität, Uniform und Stärke und so weiter, wurde und wir von totalitären Regimes nach wie vor benutzt, und der lange Gruber tut genau das mit erschreckender Wirkung. Es ist so leicht, einen Keil zu treiben zwischen ehemalige Freunde, sich selbst zur Autorität über andere zu machen und sie einzuschwören auf Parolen, die noch so dämlich und sinnlos sein können, die aber jeder mitbrüllt, wenn sie sich nur gut anhören. Man schafft Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten, mischt geschickt Drohung, Gewalt und Belohnung, und schon hat man sich eine Gefolgschaft gebastelt, die einem überall hin folgen würde. Der Rest ist dann Geschichte.
Ich kann Rosenmüllers fantastisches Händchen für seine jungen Schauspieler nur bewundern, denn sie sind allesamt so gnadenlos gut, dass sie den großen in nichts nachstehen, und die haben zum Teil anspruchsvoll Rollen zu bewältigen, vor allem Markus Krojer als Alex leistet mal wieder Bemerkenswertes und scheint für Rosenmüllers bayerisches Universum genau der richtige Protagonist zu sein. Die Bilder, die Ausstattung, die Gestaltung des Zeitkolorits, alles ist sehr professionell und überzeugend, was hier aber in erster Linie zählt, ist das Menschliche und die Art und Weise, wie Rosenmüller sein Anliegen rüberbringt. Toller Start ins neue Jahr, es kann gern so weitergehen! (4.1.)