Home (#) von Ursula Meier. Schweiz/Frankreich/Belgien, 2008. Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, Kacey Mottet Klein, Adélaïde Leroux, Madeleine Budd

   Lange nichts gehört aus dem Lande der Eidgenossen, leider, muss ich sagen, denn dies ist in jeder Hinsicht ein außerordentlicher Film, eine unberechenbare, launische Wundertüte mit Haken und Ösen, gefüllt mit schönen Momenten aber auch einigen bösen Überraschungen. Irritation ist praktisch vorprogrammiert, und selbst wer sich offen und bereitwillig einlässt, ist nicht gegen Tiefschläge gefeit.

   Zu Beginn sehen wir eine Familie – Vater, Mutter, zwei Töchter (erwachsen, pubertierend), der kleine Sohn -, die in einer Art Niemandsland lebt. Felder drumherum, vage Hügelschatten weiter hinten, keine Siedlung weit und breit, nicht mal eine richtige Straße führt zu dem leicht vergammelten Haus mit halb fertigem Pool. Das heißt, es führt sehr wohl eine Straße daran vorbei, eine Autobahn nämlich, nur ist die noch nicht zu Ende gebaut und in Betrieb genommen worden und wurde so von unserer Familie praktisch als Wohn- und Lebensraum einverleibt. Man überquert sie auf dem Weg zur Schule bzw. zur Arbeit, man spielt darauf, man benutzt sie als Rennbahn für den Roller. Bis eines Tages ohne Vorwarnung und aus heiterem Himmel Bautrupps wie eine Armee anrücken, die Bahn über Nacht ruckzuck asphaltieren, markieren, und nach wenigen Tagen rollt bereits eine Blechlawine, und von nun an wird alles anders. Aus der struppigen, aber liebenswürdigen und unkonventionellen Familienidylle wird flugs ein zunehmend bedrohliches und klaustrophobisches Szenario, denn die pausenlose Lärm- und Abgasbelastung setzt die Fünf dermaßen unter Stress, dass die Situation bald außer Kontrolle gerät. Die älteste Tochter, die sich zur Freude der Brummifahrer weiterhin trotzig im Bikini auf der Wiese vor dem Haus geräkelt hat, ist eines Tages einfach verschwunden, die jüngere ergeht sich in düstere Alptraumvisionen von globalen Ökokatastrophen, die Mutter verfällt in Apathie und exzentrisches Verhalten, der Papa setzt dem Ganzen die Krone auf, als er sich und die Seinen kurzerhand im Haus einmauert, um dem Gestank und dem Lärm nicht länger ausgesetzt zu sein. Ganz kurz bevor die Lage fatal eskalieren kann, wacht Mama aus ihrem Dämmerzustand auf, schnappt sich den Vorschlaghammer, kloppt die zugemauerte Haustür auf, und unsere kleine Familie ist wieder fei. Dazu singt Nina Simone dann „Wild ist he wind“.

   Finals mit Nina Simone sind offenbar in Mode gekommen (auch „Open Door“ von Crialese betörte ja mit einem solchen), und auch diesmal ist der Effekt überwältigend, ihre großartige Stimme zu hören und die Familie wieder über das freie Feld laufen zu sehen, dem totalen Supergau gerade noch entkommen und vermutlich auch neu zusammengeschweißt, denn zuvor waren sämtliche Bindungen unter dem äußeren Druck beinahe schon zerrissen, hatten sich Angst, Paranoia und Aggression breitgemacht, und als Zuschauer hockte ich schon in banger Erwartung kommenden Unheils. Aber dann öffnete sich wieder die Wundertüte und überraschte mich mit einer neuerlichen Wendung, diesmal wieder zum Guten, und das war irgendwie auch nötig, denn nach einem wundervoll heiteren und liebenswert komödiantischen Auftakt verdunkelt sich die Tonlage kontinuierlich bis hin zum veritablen Drama, das sämtliche Optionen befürchten lässt und zunehmend psychotische und traumatische Züge annimmt. Diese Entwicklung kam zumindest für mich reichlich unvorhersehbar und erschien mir umso beunruhigender, als tatsächlich jedes Familienmitglied mehr oder weniger davon betroffen war. Nicht nur die etwas labile Mutter, die sich mit aller Kraft an ihr Zuhause klammert, oder die Tochter, deren Ökofanatismus recht skurrile Ausmaße angenommen hat, sondern auch der Vater, der bislang der robuste, herzliche, zupackende Fels in der Brandung war und der urplötzlich total ausrastet und augenscheinlich den Tod der gesamten Familie in Kauf zu nehmen bereit ist. In die letzten zwanzig Minuten ließe sich vieles hineinlesen, Allegorien auf Isolation, Abschottung, Paranoia etwa, doch auch zuvor gibt es immer wieder frappierende Momente von verblüffender Kraft, und allein schon das Bild der Familie, die halb auf einer toten, verwaisten, vergessenen Autobahn lebt, könnte in einem anderen Kontext aus irgendeinem Endzeitszenario stammen. Irgendwie aber hat Ursula Meier es fertiggebracht, auch die ungewöhnlichsten und widersprüchlichsten Momente so selbstverständlich und fast beiläufig aneinander zu reihen, dass sich eine ganz eigene und eigenartige Logik ergibt.

   Mir hat vor allem die erste halbe Stunde großartig gefallen, weil es hier so viele Szenen gibt, die einem ganz normalen Familienleben bis ins Detail realistisch nachempfunden sind, und zwar mit wunderbar viel Gefühl und Humor. Jeder einzelne Charakter passt hundertprozentig in meine eigene Familienerfahrung, jeden finde ich in meiner nächsten Umgebung wieder, und dennoch ist jeder Teil einer universellen Erfahrung. Das ist großartig erzählt und gespielt, und obwohl mir die zweite Hälfte weitaus weniger Spaß gemacht hat (und sie will das ja auch gar nicht mehr) und ich mir wünsche, die Dinge wären nicht so nah an eine Katastrophe herangerückt, hat die Regisseurin dennoch einen beachtlichen Sinn für Timing und für die Symptome der Eskalation bewiesen, was den Gesamteindruck noch bedrückender macht, weil eben der erste Teil so schön und die Entwicklung dennoch so folgerichtig ist.

 

   Insgesamt ein ganz schwer zu kategorisierender Film, der nach vielen Seiten irrlichtert, der viele Facetten hat, nicht in allen Momenten gleich stark ist, was aber auch nicht verwundert, weil sich eben so viel tut und entwickelt. Wenn ich es nicht gewusst hätte, hätte ich den Film eher in den 70er Jahren verortet, weil es dort einige vergleichbare Werke gab zwischen Allegorie, Futurismus, Groteske und Drama. Soll aber nicht bedeuten, dass sowas hier und heute keinen Platz hätte, im Gegenteil! (27.6.)