Milk von Gus van Sant. USA, 2008. Sean Pen, Emile Hirsh, Josh Brolin, Diego Luna, James Franco, Alison Pill, Lucas Grabeel, Victor Garber, Denis O’Hare

   Ewige Jahre lang, so scheint es heute, irrte van Sant auf seinem fernen Planeten umher, produzierte bestenfalls sperrige aber bemerkenswerte Sachen („Elephant“), manchmal sperrige aber immerhin ganz interessante Sachen („Paranoid Park“), manchmal mehr oder weniger seichten Mainstream („Good Will hunting“, „To die for“), meistens aber schlicht Bullshit („Gerry“, „Last days“, „Even Cowgirls…“, „Psycho“), sodass ich zumindest mich längst damit abgefunden hatte, dass die Zeit seiner wirklich eindrucksvollen Subkulturfilme wie „Drugstore Cowboy“ und vor allem „My own private Idaho“ für immer vorbei waren. Nun sieht plötzlich alles anders aus, nun sieht es so aus, als habe er lediglich einen siebzehn Jahre langen Umweg benötigt vom einen zum anderen Meisterstück (was die Zeit dazwischen allerdings nicht weniger irritierend macht!), und vor allem sieht es so aus, als habe van Sant noch einmal seine alte Kreativität und seine Ausdruckskraft mobilisieren können – zum letzten Mal vielleicht, wer weiß? Dies ist jedenfalls sein mit Abstand wichtigster und wohl auch bester Film, einer der wichtigsten US-Filme der letzten zwanzig Jahre oder so und zudem ein Film, der in mehrere der bisherigen van-Sant-Kategorien passt. Er ist sperrig, er ist aber auch Mainstream, er ist Subkultur und er ist natürlich in jeder Hinsicht bemerkenswert.

   Die letzten acht Lebensjahre von Harvey Milk, beginnend in New York, wo er seinen langjährigen Freund Scott kennenlernt und mit ihm nach San Francisco zieht, weil er Veränderung und neue Leute um sich braucht. Die Hoffnung auf eine aktive schwule Subkultur wird aber enttäuscht, weil das legendäre Haight mittlerweile von Drogen und Kriminalität verseucht ist.  Die beiden eröffnen im Viertel Castro einen Fotoladen und beginnen langsam, eine Szene aufzubauen, die sich rasch politisiert, zumal die öffentliche Stimmung noch immer ausgesprochen repressiv und schwulenfeindlich ist. Radikale, regelrecht faschistoide Kampagnen religiöser Fundamentalisten wie Anita Bryant oder Senator John Briggs und die konkrete Bedrohung für die Bürgerrechte bewegen Harvey dazu, sich politisch zu engagieren und schließlich für den Stadtrat von San Francisco zu kandidieren. Nach mehreren Anläufen gelingt dieses Unterfangen, jedoch auf Kosten seiner Beziehung zu Scott, und es tritt mit seinem Kollegen im Stadtrat Dan White ein Gegner auf den Plan, dessen fatale Rolle nicht vorhersehbar war.

   Van Sant scheut sich diesmal nicht, relativ konventionelle Mittel einzusetzen, um ganz direkt und emotional auf sein Publikum einzuwirken, und das finde ich völlig okay. Sein Film ist ein bewegender, leidenschaftlicher Appell für Freiheit und Toleranz, für Zivilcourage, politisches Engagement und gegen die Diskriminierung jedweder „Minderheiten“, so wie auch Harvey Milk deutlich macht, dass es ihm zwar in erster Linie um die Rechte der Homosexuellen geht, dass er sich darüber hinaus aber auch für die Rechte anderer Gruppen einsetzen will, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer sexuellen Präferenz unterdrückt werden. Die Ereignisse, die mit seinem Tod endeten, sind gerade mal dreißig Jahre her, und es ist gar erst zwanzig Jahre her, dass in Dade County/Florida die einst von Anita Bryant erfolgreich bekämpften Gesetze gegen die Diskriminierung von Homosexuellen wieder eingeführt wurden, es soll also niemand kommen und sagen, all das sei lange her und gehöre nicht mehr in unsere Zeit. Mein Mitgucker, der weiß, wovon er spricht, war ebenfalls überrascht, wie restriktiv und repressiv die Gesetze in vielen US-Bundesstaaten bis spät ins 20. Jahrhundert noch waren, wo doch hierzulande eine vergleichsweise liberale Gesetzgebung herrscht, obwohl der berüchtigte § 175 auch erst vor fünfzehn Jahren offiziell gestrichen wurde. Harvey Milks Vision jedenfalls, in San Francisco, dem alten Zentrum der Hippies und Schwulen, schnell eine einflussreiche Bewegung auf die Beine stellen zu können, erfüllt sich nur langsam, und Van Sant stellt dies zähe und verbissene Ringen ins Zentrum seines Films. Milk schart eine kleine Gruppe hoch engagierter Mitstreiter und Freund um sich und er lernt auch, politisch zu taktieren und zu manövrieren, und als erstmal Pferdeschwanz und Hippiebart der Schere zum Opfer gefallen sind, ist er plötzlich ein Anzug- und Krawattenträger, ein Teil jener Maschine, die er früher selbst verachtet hatte. Unbeirrt aber bleibt er dabei, Leute zu rekrutieren, zu mobilisieren, er appelliert an alle Schwulen und Lesben, sich überall zu outen, sich zu organisieren, und auch wenn er Bryants Feldzug nicht stoppen kann, so gewinnt er immerhin gegen John Briggs, der eine ähnliche Schweinerei für Kalifornien plant. Dan Whites Attentat, eine archetypisch amerikanische Tragödie, entspringt allerdings weniger politischen Gründen als vielmehr persönlicher Frustration, denn White muss mehrmals deutlich hinter dem beliebten, wendigen, temperamentvollen Milk zurückstehen und sieht sich von ihm aus dem Stadtrat gedrängt. Milk hat im Laufe seiner kurzen Karriere mehrere drastische Morddrohungen erhalten und scheinbar auch mit einem solchen Anschlag gerechnet, denn mehrmals sehen wir ihn recht kurz vor seinem Tod einen Text diktieren, in dem er ein solches mögliches Ereignis einkalkuliert.

 

   Seine enorme emotionale Wirkung bezieht der Film zum einen natürlich aus seinem Thema, aus dem sichtbaren Engagement aller Beteiligten, aber auch aus dem großartigen Drehbuch von Dustin Lance Black, das sehr viele Schlüsselsätze enthält, aber dennoch nicht als plattes Pamphlet daherkommt, und natürlich den brillant kraftvollen, in der Tat leidenschaftlichen Darstellungen. Sean Penn ist grandios, doch er ist umgeben von nicht minder eindrucksvoll aufspielenden Kollegen, und van Sant findet die richtigen Bilder, häufig durchmischt mit Dokumentaraufnahmen aus der Zeit, und erhält sich bei aller Breitenwirkung einen unangepassten, rauhen Touch, der den Film deutlich von einem glatten Durchschnittsprodukt aus Hollywood abhebt. Er wollte offenbar großes Kino machen, hat er auch getan, doch ist dies alles andere als hohles Kino, sondern ein Film, der nachwirkt, der bleibt. (16.3.)