Adoration (Simons Geheimnis) von Atom Egoyan. Kanada, 2008. Scott Speedman, Arsinée Khanijan, Rachel Blanchard, Noam Jenkins, Devon Bostick, Kenneth Walsh

   Eine gradlinige Synopsis dieses Films würde vielleicht so aussehen: Simon verliert seine Eltern als kleiner Junge bei einem Autounfall und lebt danach bei seinem Onkel Tom. Jahre später bringt ihn seine Lehrerin Sabine dazu, eine erfundene Geschichte zum Theaterstück auszubauen und öffentlich vorzutragen. Darin kommt seine Mutter Rachel vor, eine international bekannte Violinistin, die von ihrem Mann Sami, einem palästinensischen Instrumentenbauer, für einen Selbstmordanschlag in einem Flugzeug missbraucht werden sollte, aber bei der Kontrolle am Flughafen gestoppt wird. Simon erzählt so überzeugend, dass viele die Geschichte für bare Münze nehmen, und im Internet bildet sich ein reges Diskussionsforum, an dem Simon ebenfalls teilnimmt. Sabine, die ebenfalls aus dem Libanon stammt, nähert sich Toms und Simons Haus, zunächst in landesüblicher Verhüllung, erklärt sich dem empörten Tom aber später und erläutert in einem langen Gespräch den Hintergrund ihres Handelns. Daraus geht hervor, dass nicht nur Simon ein Geheimnis hat, wie der deutsche Titel suggerieren möchte, sondern eigentlich jeder der hier Beteiligten.

   So gradlinig erzählt Atom Egoyan erwartungsgemäß nicht, gottlob, sondern er macht aus einer sehr vielschichtigen Familiengeschichte einen ebenso vielschichtigen Film, sanft und dunkel fließend, faszinierend gestaltet, häufig zwischen den Ebenen springend, Gegenwart, Vergangenheit, aber auch immer wieder in Simons Imagination. Wir sehen die junge schöne Rachel hilflos am Kontrollschalter stehen und zu begreifen versuchen, dass ihr eigener Mann in ihrem Gepäck eine Bombe versteckt hat. Der Sog der Geschichte und ihrer Konsequenzen droht sich zu verselbständigen, was Sabine nicht voraussieht, vielleicht weil sie die Mechanismen, die Eigendynamik der Chatrooms unterschätzt. Sobald Simon seine Geschichte in der Klasse vorgetragen hat, verlagert sich das Geschehen in diese Parallelwelt, in die sich jederzeit beliebig viele Leute einloggen können. Vielfach sind es Freunde und Schulkameraden Simons, vielfach aber auch alle möglichen schrägen Typen von sonstwo, die jeweils wichtige und essentielle Beiträge zu leisten glauben. Simon spielt das Spiel anfänglich noch amüsiert mit, ist aber auch zunehmend überfordert von dem, was er dort unabsichtlich losgetreten hat. Sabines eigene Motive sind nicht ganz klar, offenbar aber ist sie auf eine Provokation, eine Prüfung der geltenden öffentlichen Meinung aus, denn Sami eignet sich natürlich allerbestens für das Klischee des finsteren arabischen Bombenlegers, der seine unschuldige blonde Frau und weitere vierhundert Menschen in den Abgrund stoßen will. Das Experiment misslingt, die Täuschung ist im Zeitalter nach 9/11 zu perfekt, die Geschichte wird allzu gern geglaubt, und Simon ist nun allein mit dem Versuch, die Folgen zu bewältigen, zumal er schnell an einen Punkt gelangt, an dem es kaum noch möglich scheint, den Leuten zu beichten, er habe alles nur erfunden, ohne massive Sanktionen befürchten zu müssen. Allein diese Teilepisode vereint mehrere Themen in sich, die zunächst wenig mit den anderen zu tun haben, doch gelingt es Egoyan brillant, sie alle in die Erzählung zu integrieren und letztlich offen zu lassen und zwar so, dass es keine Brüche, keine Sprünge gibt. Eindeutige Beurteilungen, einseitige Stellungnahmen des Regisseurs sind nicht zu erwarten und würden zu dem Film auch nicht passen. Die Menschen tun, was sie tun, jeder hat seine/ihre Gründe, jede/r steht für sich ein, nur darf sich niemand dem Irrtum hingeben, seine/ihre Taten hätten keinen Einfluss auf andere, Sabine verfolgt zum einen politische, zum anderen rein private Ziele. Sami war einmal mit ihr verheiratet, und sie hat ihn nie ganz aus den Augen, nie ganz das Interesse an ihm verloren, und so geht sie nun dem Bedürfnis nach, ihm nahe zu sein, und sie möchte auch klären, wie es einst zu dem tödlichen Autounfall der Eltern kommen konnte. Simons Großvater hatte sofort Sami als Schuldigen ausgemacht und von geplantem Selbstmord gesprochen.  Zusammen mit Tom, der sich gegen diese Erinnerungsarbeit zunächst heftig wehrt, kann sie jedoch den tatsächlichen Ablauf rekonstruieren, der eher auf eine tiefer liegende Familientragödie hinausläuft, in der der Großvater eine wesentliche und sehr negative, und auch Tom seine Rolle spielt, denn der war einem heftigen Streit entflohen und wollte nicht zurückkommen, um das Ehepaar nach Hause zu fahren, wohl, wissend, dass Rachel schon zuviel getrunken hatte und Sami an Nachtblindheit litt und kaum fahren konnte. Natürlich liegt in Sabines Anliegen auch ein gutes Stück Selbstgerechtigkeit, und man kann annehmen, dass sie mit ihrer Identität als Samis Ehefrau nicht wirklich fertig geworden ist, ebenso wie sie mit ihrer Identität als palästinensische Frau in einem fremden christlichen Land hadern mag. Egoyan verdeutlicht, dass jeder der hier Handelnden seine Motive und Beweggründe hat, und es geht ihm absolut nicht darum, diese gegeneinander aufzurechnen oder zu bewerten, es geht nur darum, zu zeigen, welch unberechenbare Lawinen manchmal losgetreten werden können, wenn verschiedene Menschen mit verschiedenen Zielen und Ideen aufeinander treffen.

 

   Egoyan hat dies mit gewohnter Intensität und seiner Vorliebe für eine leicht ominöse, geheimnisvolle Atmosphäre wunderbar inszeniert und seine Darsteller ebenso beeindruckend eingesetzt. Man muss sich wie bei allen seiner Filme darauf einlassen können, was nicht gerade jedem leicht fallen mag, was aber auf jeden Fall einmal mehr ein ungewöhnliches und eindrucksvolles Filmerlebnis ergibt. (18.5.)