Slumdog Millionaire (#) von Danny Boyle. England/Indien, 2008. Dev Patel, Freida Pinto, Madhur Mittal, Anil Kapoor, Irrfan Khan, Tanay Chheda, Ashutosh Lobo Gajiwala, Ayush Mahesh Kedekar, Azharuddin Mohammed Ismail, Rubiana Ali

   Schon nach schätzungsweise zehn Minuten kam es von rechts: Das ist ja gar kein Wohlfühlfilm! Ich dachte, das ist eine Liebesgeschichte, also das hab ich mir ganz anders vorgestellt… Und das musste auch so kommen, denn wie immer fallen wir alle auf den debilen Müll rein, den schwachgeistige Klappentexter und hirnverbrannte PR-Deppen auf den Markt bringen, um ein Produkt möglichst gewinnbringend zu verkaufen. „Der Wohlfühlfilm des Jahrzehnts“ hieß es diesmal sogar, der Hype kam ins Rollen, dann kamen die Oscars und noch mehr Hype, und allgemein wurde eine große Romanze mit großen Gefühlen und der großen Liebe angekündigt, „nach Trainspotting der neue Geniestreich von Regisseur Danny Boyle“ – Originalzitat!

   Nun, von all den oben erwähnten Zutaten sind sicherlich alle in diesem Film enthalten, aber eben auch mehr, vor allem in der ziemlich toughen ersten Stunde. Im Hintergrund steht natürlich immer die lebenslange Liebe zwischen Jamal und Latika, die übermächtige, ganz große Liebe, die stark genug ist, alle Hindernisse hinwegzuräumen, und das will in diesem Fall etwas heißen: Denn dies ist auch die Geschichte zweier Brüder, die sich nach dem Tod ihrer Mutter allein durch die Slums von Bombay kämpfen müssen, um früher oder später entgegengesetzte Wege einzuschlagen. Dies ist auch die Geschichte des Mädchens Latika, das sich den Brüdern anschließt, das eigentlich dem jüngeren Jamal näher steht, schließlich aber vom älteren Salim mit dem recht des Stärkeren beansprucht wird, worin sich auch der ewige Konflikt der Brüder zeigt, denn immer wieder wird Jamal von Salim um etwas betrogen, in zwei entscheidenden Situationen aber auch von ihm gerettet. Dies ist auch ein Stück Geschichte der Stadt Bombay auf dem Weg zur Stadt Mumbai, die Geschichte eines Molochs auf dem Irrweg zur Boomtown mit weiterhin unlösbaren strukturellen Problemen, der monströsen Slums, der religiösen Unruhen, der Kriminalität, der allgegenwärtigen Gewalt, des trügerischen Aufschwungs, der die Slums an der einen Stelle wegräumt, um sie an anderer Stelle wieder entstehen zu lassen. Eine Geschichte vom Tod, Folter, Missbrauch, Verstümmelung, Armut, Hunger und Elend, und ganz bestimmt alles andere als eine schöne Geschichte, die das eingebettet wird in Jamals großen Auftritt bei „Wer wird Millionär“, wo er sich vom schmierigen Showmaster als Slumdog und Laufbursche verhöhnen lassen muss, um dennoch zum Verdruss des eitlen TV-Stars eine Frage nach der anderen zu beantworten. Sein Geheimnis soll die Polizei zwischendurch aus ihm herausprügeln, doch kann Jamal den Offizier davon überzeugen, dass die Antwort auf fast jede Frage wie durch ein Wunder mit seiner Biographie verbunden ist und ihm irgendwann einmal begegnet ist – bis auf die entscheidende 20-Millionen-Frage, die eigentlich auf absurde Weise nahe liegt, die ihm aber auch die geliebte Latika als Telefonjoker nicht beantworten kann. Wo so auf dem Bildschirm als spannendes, schillerndes Spiel wiedergegeben wird, ist in Wahrheit Spiegel eines dramatischen, oft tragischen Lebens, das sich deutlich in den großen, ernsten Augen Jamals zeigt, der zu jeder Antwort eine Geschichte hat.

 

   Danny Boyle hat eine reichlich kuriose und riskante Mischung aus dem krassen Realismus von „Salaam Bombay“ und dem überschwänglichen Gefühlsaufwand jedes beliebigen Bollywooddramas fabriziert, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass bei weitem nicht jeder für sowas zugänglich ist – ich aber bin es und finde den Film doch sehr beeindruckend, was nicht so sehr an der Story an sich liegt als vielmehr daran, wie sie hier aufbereitet wird. Randvolle zwei Stunden lang rauscht eine virtuose, überwältigende, rasante Bilder- und Tonflut auf uns nieder, ein furios montiertes Stakkato, das uns mitreißt und atemlos zurücklässt, bis zur letzten Minute, da Jamal und Latika endlich vereint sind und zum Abspann den obligatorischen abschließenden Bollywoodtanz zelebrieren können. Das Motiv der permanenten Flucht, des Weglaufens durchzieht Jamals und Salims Kindheitsgeschichte – Flucht vor wütenden Polizisten, Flucht vor dem tobenden Hindumob, dem die Mutter zum Opfer fällt, Flucht vor grausamen Mordschergen, für die sie als verkrüppelte Bettelkinder anschaffen sollen, Flucht vor allen möglichen Leuten, die sie im Laufe ihrer Karriere bestehlen und betrügen, Flucht schließlich auch vor den Prügelknaben jenes Bandenbosses, dem sich Salim anschließt und aus dessen Gefängnis Jamal seine Latika befreien muss. Anthony Dod Mantle, mit dem Boyle nicht zum ersten Mal arbeitet, kreiert pulsierende, elektrische Impulse, die die abwechselnd angstvolle und auch zornige hast und Rastlosigkeit für uns physisch erfahrbar machen in einer Intensität, wie ich sie bislang noch nicht erlebt habe. Eine totale Dröhnung für alle Sinne, brillant und betäubend, grausam und schön, erschütternd und emotionsgeladen, voller unvergesslicher Gesichter und Momente, und entweder man steigt von Anfang an drauf ein oder klinkt sich beizeiten entnervt aus. Die Differenz zwischen Hollywood und Bollywood zeigt sich hier überaus deutlich, und dennoch (oder gerade deshalb) ist dies ganz großes Kino, das man als solches genießen sollte – wenn man kann! (27.3.)