Sturm von Hans-Christian Schmid. BRD/Dänemark/Niederlande, 2009. Kerry Fox, Anamaria Marinca, Stephen Dillane, Rolf Lassgård, Alexander Fehling, Kresimir Mikic, Steven Scharf
Dieser Film hat gottseidank den richtigen Regisseur, und zwar genau den richtigen. Nicht auszudenken, was ein Biedermann wie Heidelbach aus diesem Stoff gemacht hätte, irgendeine Seifenoper mit Iris Berben womöglich, aber dies ist uns erspart geblieben. Gut so, denn dies ist ein Stoff, der einen seriösen Filmemacher erfordert, und die ist Schmid in der Tat, das hat er bereits vielfach unter Beweis gestellt, und das stellt er auch mit diesem neuen Film nachdrücklich unter Beweis.
Schmid hat seinen Horizont noch mehr erweitert, macht nun einen Film im großeuropäischen Kontext, gleichzeitig einen Film, der globale Dimensionen hat, der zugleich an ein konkretes historisches Ereignis gebunden und dennoch thematisch zeitlos ist. Es geht um Politik und Menschlichkeit, um diplomatisches Kalkül, und den Kampf um Gerechtigkeit. Hört sich schwergewichtig an, ist es faktisch auch, kommt aber in diesem bemerkenswerten Film so dezent, konzentriert und unspektakulär daher, wie ich es wirklich nie erwartet hätte. Statt eines volltönenden Melodramas hat Schmid eine stille, intensive, erschütternde Tragödie mit vorsichtig optimistischem Ausklang gemacht, obwohl das mit dem Optimismus am Ende so eine Sache ist.
Die Anklage gegen den mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher Goran Duric droht in die Binsen zu gehen, als er Hauptzeuge der Lüge überführt wird und sich kurz darauf das Leben nimmt. Er hat recht, das wissen alle, nur fehlt es an einem juristisch handfesten Beweis. Die Ermittlerin Hannah Maynard treibt unter großen Mühen schließlich Miras auf, die mittlerweile mit einem Deutschen verheiratet ist und einst selbst Opfer und Zeuge der „ethnischen Säuberungen“ wurde. Natürlich will sie nicht aussagen, will sich nicht erinnern müssen an Vergewaltigung, Demütigung, Todesangst und vielfachen Tod. Sie hat Angst vor der Erinnerung und Angst vor der Rache der Schergen, denn sie weiß, dass die alten Verbrecher noch immer mächtig sind und ihr Einfluss weit reicht. Hannah kämpft aber nicht nur um ihre Kooperation, sie kämpft auch an einer ganz unvermuteten Front, denn mittlerweile hat sich auf offizieller Seite der Winde gedreht, und es sieht so aus, als habe niemand mehr Interesse an Durics Verurteilung, denn nun stehen größere politische Themen auf der Tagesordnung, nun geht es um die EU-Erweiterung durch die Länder des ehemaligen Jugoslawien, es geht um Diplomatie, das heißt, dass aktuell nach Möglichkeit unpopuläre und unbequeme Dinge vermieden werden sollten zugunsten freundlichen Stillhaltens, und absolut niemand ist momentan an der grausamen Wahrheit interessiert. Mira, die sich schwersten Herzens doch zur Aussage durchgerungen hat, erkennt erst im Gerichtssaal, dass ihr Opfer womöglich umsonst war und sie ein weiteres Mal gedemütigt wird von ihrem Peiniger, doch Hannah, die sich fast schon abfinden wollte mit dem feigen Deal, macht dem Kalkül ihres Chefs einen Strich durch die Rechnung und stellt doch ein paar entscheidende Fragen. Das wird sie vielleicht ihre Karriere kosten, doch ein Stück Integrität hat sie für sich und die Opfer gerettet.
Kein publikumsfreundliches Betroffenheitskino, kein bequemes Rührstück, nicht mal explizit grausig geht’s hier zu. Das Grauen ist in den Gesichtern, den Körpern, den Stimmen und natürlich dem, was sie sagen und vor allem, was sie nicht sagen, nicht sagen können, nie mehr sagen oder denken wollen. Ein Film für die Opfer, gegen das Verdrängen und Vergessen, bei alledem aber ein angemessen leiser Film, der Wut und Trauer nicht herausbrüllt, weil er das nicht muss, weil seine Bilder und Szenen mehr auszudrücken vermögen als all das viele Gebrüll, das schon um das Thema gemacht wurde und das sicherlich auch seinen Platz und sein Recht hat. Nach fünfzehn Jahren der Arbeit an Trauer und Wut aber sind gewisse Kräfte erlahmt, kann man sich einen klareren Blick auf manche Zusammenhänge leisten, nicht weil man weiß, dass die Taktiker und Realisten längst gewonnen haben (obwohl das ja genau so ist), sondern weil man eingesehen hat, dass ein klarer Bick einfach besser ist als blinder Zorn. Weshalb sollten wir uns über den braven, pflichtbewussten und gewissenhaften Bürokraten Rolf Lassgård (der einen fast schon erschreckend schlank gewordenen Wallander abgibt) ereifern, wo der doch nur die Mission europäischer Globaljunkies ausführt, ohne jemandem Böses antun zu wollen. Und der ganz richtig feststellt, dass die Wahrheit manchmal niemandem hilft, vor allem nicht jenen, die Arbeit und Wohlstand erstreben und beides nur unter der Bedingung haben können, dass ihr Land Anschluss an die westliche Hemisphäre findet. Gerechtigkeit für die Opfer ist eine Sache, aber sie betrifft in erster Linie die Vergangenheit. Vernünftigerweise gehört es sich aber, nach vorn zu schauen und die Vergangenheit auch mal hinterwegs zu lassen (womit man hierzulande ja bekanntlich immer besonders gut gefahren ist) und endlich eher die ökonomischen Interessen ins Visier zu nehmen. Unsere Hannah gerät alsbald zwischen genau diese Mühlsteine, die mit unheimlicher Effektivität unentwegt mahlen und zwischen denen schon manches zu Staub wurde, und selbst wenn sie einen Rest ihrer eigenen Ideale zuletzt zu retten vermag, weiß sie doch, dass sie am Lauf der Welt im Großen und Ganzen nicht mehr ändern wird. Das wissen wir genauso gut wie sie, und dieser Film erinnert auf beharrlich drängende Weise immerzu daran und plädiert auch deutlich für ein Umkehr, halberlei wissende, wie unrealistisch das wäre. Vielleicht wirkt der Film deshalb auch so traurig, weil er um die Dinge und um ihre Unveränderbarkeit weiß.
Dennoch ist dies großartiges Kino, und wenn es nur dazu da ist, um uns ein Stück Wirklichkeit vor Augen zu führen, was ja manchmal schon ausreichen kann, um uns für zwei Stunden aus dem Alltagsschlag zu reißen. Brillante Schauspieler, ein brillanter Soundtrack von The Notwist und ein ebenbürtiges Drehbuch, das keine billigen tricks nötig hat, in dem zwar an sich schon viel gesprochen, zwischen den Zeilen aber noch viel mehr gesagt wird, machen die Qualitäten aus, wie schon in vielen früheren Filmen von Hans-Christian Schmid. Es wird interessant sein abzuwarten, ob er nun weiter im internationalen Umfeld tätig sein oder wieder zu ausgesprochen deutschen Themen zurückkehren wird. Egal, wie er sich entscheidet, außerordentliche Filme sind uns fast schon sicher. (30.9.)