Carlos (Carlos – Der Schakal) von Olivier Assayas. Frankreich/BRD, 2010. Edgar Ramirez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Fadi Abi Samra, Ahmad Kaabour, Rodney El-Haddad, Julia Hummer, Jule Böwe, Talal El-Jurdi

   Nach dem allzu oberflächlichen und sensationsheischenden Versuch über Baader-Meinhof ist die Kinoversion des fünfstündigen Projekts von Olivier Assayas nun eine weitaus gründlichere, anspruchsvollere, einsichtsvollere und vor allem spannendere Annäherung an den Terrorismus der 70er Jahre, an eine seiner bedeutendsten Ikonen, den Herrn Ilich Ramírez Sánchez aus Venezuela, besser bekannt unter seinem „Kampfnamen“ Carlos. Ich erinnere immer nur das grobkörnige Plakat des unscheinbaren Typen mit der fiesen großen Brille, wusste ansonsten fast nichts über ihn, außer, dass er jahrelang eine Art Phantom war, ein international gesuchter Mörder, dass ihn die Franzosen irgendwann vor längerer Zeit eingesackt und weggesperrt haben, und dass ihm die Verstrickung in alle möglichen Terrorakte in allen möglichen Zusammenhängen angedichtet wurde.

   Assayas kann natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und hundertprozentige historische Genauigkeit erheben. Das ist schon deswegen kaum möglich, weil Carlos selbst unentwegt am eigenen Mythos gebastelt und sich gern mit allen möglichen Aktionen gebrüstet hat, an denen er gar nicht beteiligt gewesen war. So stellt er dem Film einen kurzen Satz voran, mit dem er klarstellt, dass vieles über die Person Carlos im Unklaren geblieben ist und wohl immer bleiben wird. Immerhin geschieht in den hier umrissenen Jahren zwischen 1973 und Carlos’ Verhaftung gut zwei Jahrzehnte später in Khartum so viel, und vor allem gibt es drumherum so viel zu bedenken und zu zeigen, dass sich ein Autor/Regisseur von vornherein zwangsläufig beschränken muss auf das, was ihm zu zeigen wichtig ist. Und da finde ich, hat Assayas schon mal grundsätzlich Bewundernswertes geleistet.

   Los geht’s 1973 oder 74, als Carlos sich der Palästinensischen Befreiungsfront als Kämpfer andient und sogleich daran geht, in Paris eine Gruppe aufzubauen und kräftig loszuschlagen. Da er seine eigenen Vorstellungen hat, wie man solche Aktionen durchzieht, legt er sich wieder und wieder mit seinem Auftraggeber an, doch unbeirrt geht er davon aus, der beste in der Branche zu sein, auch als die spektakuläre Geiselnahme der OPEC-Konferenz in Wien 1975 nach langem Irrflug gen Nahost in einer Blamage endet, und auch als er in Paris eine überflüssige Schießerei mit einigen Toten anrichtet, nimmt sein Selbstbild keinen Schaden. Er nimmt im Trainingscamp im Jemen erstmals Kontakt zu einigen deutschen Aktivisten auf und macht fortan als eine Art Berufsterrorist weiter, nicht mehr direkt an eine Sache gebunden, sondern eher in einem diffusen Kampf gegen westliche imperialistische Unterdrückung (oder so). Die chaotisch wilde Fahrt geht weiter bis in die Achtziger, Carlos mutiert zum meistgesuchten Terroristen seiner Zeit, zumal sich Baader-Meinhof in den Ruhestand verabschiedet haben, und er genießt sein Image sichtlich, gründet eine Familie und ist rastlos unterwegs in den sympathisierenden Nahost-Staaten, solange die ihn noch haben wollen, Dann aber fällt 1989 die Mauer, die alte Welt der Blöcke fällt mit ihr, und damit auch die alten Feindbilder. Die Welt stellt sich neu auf und der gute alte Terrorismus hat plötzlich kein rechtes Angriffsziel mehr. Die ehemals wohlwollenden Staaten distanzieren sich von Leuten wie Carlos, niemand will ihn mehr dulden, weil sich alle plötzlich um ihr Image sorgen. Wie eine Infektion wird er nun weiter gereicht von Syrien nach Libyen und schließlich in den Sudan, wo er, ein Fossil der alten Ordnung, sich auch nicht mehr lange halten kann und schließlich 1994 an die Franzoden verraten wird, die ihn 1997 ruckzuck verurteilen und lebenslang einbuchten.

   Eine wahrlich kinoreife Vita, aber natürlich nicht nur die Geschichte eines einzelnen Lebens, sondern zugleich die Geschichte einer Epoche, und Assayas’ besonderer Verdienst liegt genau darin, dass er Carlos’ Weg benutzt, um das Porträt seiner Zeit im ganzen zu schaffen, im besonderen das Porträt des in den 70er Jahren im großen Stil aufkeimenden und rasch international organisierten Terrorismus. Ursprünglich noch angebunden an ein konkretes politisches Ziel (wie auch immer man dies bewerten mag), lösen sich Carlos und die Kämpfer in seinem Dunstkreis im Lauf der Jahre mehr und mehr davon und bewegen sich bald in einer Art luftleerem Raum, in einer Parallelwelt aus Abenteurern, Irren und grotesk fehlgeleiteten Existenzen, beispielsweise Johannes Weinrich oder Gabriele Kröcher-Tiedemann aus dem RAF-Umfeld, die hier als Nada auftritt. Es gibt Mordanschläge, Bombenattentate, viele Tote, es gibt zunehmend innere Zerwürfnisse über den weiteren Weg, wobei sich Carlos mehr und mehr als Despot aufspielt und immer wieder eine Spaltung der ohnehin fragilen Gruppe erzwingt, beispielsweise vor der Entführung der Air-France-Maschine, die in Entebbe blutig beendet wird und einigen von Carlos’ alten Weggefährten das Leben kostet. Assayas gelingt es vorzüglich, bei aller vordergründiger Dramatik der Ereignisse deutlich auf Distanz zu gehen und nie in den Verdacht zu geraten, die Sensationen um ihrer selbst willen auszustellen. Dies spiegelt sich übrigens auch in der bemerkenswert zurückhaltenden Darstellung von Edgar Ramirez wieder. Im Gegenteil, der Ton ist eher nüchtern, manchmal wirkt die Darstellung fast beiläufig und flüchtig, was aber täuscht, denn bei allem Tempo entsteht doch ein äußerst komplexes Bild des Terroristen und seines Umfelds. Ein Narziss, ein  selbstgefälliger Frauenheld und Trophäenjäger, ein rücksichtsloser Fanatiker und Gewaltfetischist, ein Revolutionsromantiker und Fantast, der seine große Zeit in den 70ern als Public Enemy No. 1 selbstherrlich und einfältig genoss, um später dann zu einem Ruhelosen, Gehetzten zu degenerieren, der verzweifelt versucht, sich jedwedem System anzubiedern, nur um aufgenommen und verborgen zu werden, der aber vor allem nicht verstehen will, dass seine Zeit vorbei ist. Die Folgen des Mauerfalls scheinen ihm zu keiner Zeit klar zu sein, unbeirrt führt er sein anachronistisches Leben fort, ohne Rücksicht auf Frau und Kind, die erst spät von ihm loskommen. In der Rückschau mutet Carlos fast wie ein Geist an, der sich an der Seite anderer, ebenso verwirrter Geister gern vor den Karren korrupter und verbrecherischer Systeme spannen ließ und der offenbar früher oder später aufhörte, über den Sinn seiner Aktionen zu reflektieren. Terrorismus als ein Kreislauf, der sich immer wieder selbst speist, längst schon losgelöst von irgendeinem politischen Ziel oder Zweck, nur noch am Leben erhalten zur Existenzsicherung einiger sogenannter „Revolutionäre“. Assayas kommt zu einem ebenso ernüchternden wie erschütternden Fazit, und im Gegensatz zu dem Baader-Meinhof-Film aus der Eichinger-Fabrik wird der Terrorismus hier in seiner ganzen Erbärmlichkeit gezeigt als eine lange, brutale Reihe von Fehlentwicklungen und grotesken Irrtümern. Er spielt selbst auf das gern verbreitete Missverständnis an, Terror könne etwa sexy oder hip sein, nur um dieses Vorurteil gründlich und krass seiner Dummheit zu entkleiden, denn die blindwütige Irrfahrt von Carlos und seinen Leuten ist weder das eine noch das andere.

 

   Dieses Fazit wird mit eindrucksvoller Deutlichkeit und Intensität ohne große Worte allein aus dem Gezeigten entwickelt, was allerdings voraussetzt, dass man sich mit dem Film auch nachträglich noch beschäftigt, denn erst dann entwickelt er seine nachhaltende Wirkung, und die ist in der Tat beträchtlich,. Während des Zuschauens war meine Konzentration weitgehend davon absorbiert, die Flut der Ereignisse zu verstehen und in Zusammenhänge zu bringen, und erst hinterher hatte ich die Ruhe, das Gesehene zu verarbeiten und im Gespräch mit meinen Mitstreitern einzuordnen. Kein Film des leichten Verzehrs, durchaus auch ein Film mit einigen längen zwischendrin, die aber auch meiner Müdigkeit geschuldet sein können, auf jeden Fall aber ein außerordentlich dichter, konsequenter Film, der sein Zentrum, seine Absichten nie aus den Augen verliert. Ob ich nun die Fünfstundenversion auch gern sehen möchte, weiß ich noch nicht, aber wahrscheinlich werde ich es versuchen, denn zu spannend und faszinierend ist das Thema, und gleiches gilt letztlich auch für den Film, in alles in allem bemerkenswertes Projekt von großer künstlerischer und inhaltlicher Qualität. Da kann der Eichinger jedenfalls mal sehen, wie man es besser machen kann. (5.11.)