Die Fremde von Feo Aladag. BRD, 2010. Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Settar Tanriögen, Serhad Can, Derya Alabora, Tamer Yigit, Nursel Köse, Florian Lukas, Alwara Höfels

   Eine Geschichte aus unserem schönen neuen Global Village: Umays Familie lebt längst in Berlin, sie aber ist unglücklich verheiratet in Istanbul, von wo sie eines Tages mit ihrem kleinen Sohn Cem flieht, weil ihr Mann Kemal sie misshandelt und missbraucht. In Berlin aber ist sie auch nicht willkommen: Eine türkische Frau, die ihren Mann verlässt, bringt Schande über die ganze Familie, und so wird Umay zunächst bedrängt, zu Kemal zurückzukehren und dann, als sie sich standhaft weigert und von ihrer Familie Verständnis und Hilfe einfordert, zunehmend massiv bedroht. Vor allem der älteste Bruder Mehmet verhält sich sehr aggressiv und setzt sie massiv unter Druck. Sie flieht erneut und beginnt zusammen mit Cem eine Odyssee durch verschiedene Wohnungen und Schlafgelegenheiten, sie nutzt alte Kontakte, ergattert einen Job, lernt einen netten Typen kennen, versucht immer wieder, auf die Familie zuzugehen, macht dadurch alles aber eher noch schlimmer. Alle wenden sich von ihr ab, und schließlich reist der Vater nach Hause in die Türkei, um sich dort von einem alten Mann Rat einzuholen. Wie der aussieht, kann man sich schon vorher denken, jedenfalls wird kurz darauf Umays jüngster Bruder mit einer Pistole auf den Weg geschickt. Er bringt es nicht übers Herz, seine Lieblingsschwester zu töten, doch dann taucht Mehmet mit einem Messer auf...

   Eine erschütternd intensive, enorm eindrucksvolle Tragödie, deren Tragik nicht mal so sehr in dem Geschehen an sich liegt, sondern viel mehr in der schrecklichen Ausweglosigkeit aller Beteiligten. Auf die eine oder andere Weise sind sie alle Opfer: Umay ist stellvertretend für alle Frauen Opfer des archaischen Geschlechterverständnisses, die Männer jedoch , obwohl an der Oberflächliche die Gewalttäter, sind ebenso Opfer dieses Rollenzwangs, der es ihnen nach wie vor verbietet, auch mal ihren Gefühlen zu folgen, auch mal weich zu sein oder nachzugeben, der vielmehr dem Wert der Ehre höchste Priorität einräumt und selbst sinnlose Bluttaten damit rechtfertigt. Am Ende stirbt der kleine Cem irrtümlich durch die Hand seines Onkels, der starr und hilflos daneben steht -  das ist lediglich die auf die Spitze getrieben Eskalation dieser Absurdität, dieser ausweglosen Verstrickung in religiöse und gesellschaftliche Traditionen, die ihnen keinen Spielraum lassen. Am Schluss ist Umays Vater genauso verzweifelt wie sie selbst, denn er will seine Tochter natürlich nicht töten lassen, nur sieht er keinen anderen Ausweg, um die Ehre der Familie wieder herzustellen, und auch zwischendurch sieht man ihn immer wieder mit sich ringen, tief zerrissen zwischen väterlicher Liebe und seinen Pflichten als Familienoberhaupt. Auch hier liegt eine furchtbare Tragik in der Geschichte: Umay wird immer wieder vor den Folgen ihrer Entschlossenheit gewarnt, doch mehrmals zeigt sie sich überzeugt, dass am Ende die Liebe ihrer Eltern obsiegen wird, was ein verhängnisvoller Irrtum ist und sie davon abhält, sich und Cem weit genug in Sicherheit zu bringen. Wenn man Umay mit den Augen der muslimischen Tradition beurteilt, kann man ihr durchaus vorwerfen, sehr selbstsüchtig und mutwillig vorzugehen, dabei sie müsste ja genau wissen, in welches Dilemma sie ihre Familie stürzt. Aus unserer westlichen Sicht hingehen ist ihr Befreiungsversuch nicht nur mutig und stark, sondern auch völlig legitim, denn in Istanbul ist sie regelrecht eingesperrt und einem rohen Macho ausgeliefert, der den Jungen schlecht behandelt und sie nach seinem Belieben benutzt. Die Stärke des Films liegt genau darin, dass er viele Blickwinkel zulässt und keine einfachen Urteile fällt – bei aller Sympathie für Umay kann man durchaus auch Verständnis für den Vater haben, der in der türkischen Gemeinde schnell unter Druck gerät, der die Ehe seiner jüngsten Tochter mit Geld arrangieren muss, weil die Familie des Bräutigams abzuspringen droht, der auf Arbeit schief angeguckt wird, weil die Kollegen annehmen, dass seine Tochter ihm auf der Nase herumtanzt und er seine eigene Familie nicht mehr im Griff hat – für einen türkischen Papa von altem Schrot und Korn offenbar das schlimmste, was man ihm nachsagen kann. Dennoch ist er genauso wenig nur ein Unmensch wie Mehmet, der auch gefangen ist in seiner Rolle als ältester Bruder und nun die Kämpfe der Familie ausfechten und zur Not die Ehre mit Gewalt retten muss. Umays Unbeirrbarkeit hat auch schlimme Auswirkungen für ihren Sohn Cem, der die Ereignisse nicht versteht, der von einer Extremsituation in die nächste gerissen wird, der immer wieder erlebt, wie seine Mutter sich mit allen überwirft, der selbst zunehmend die Orientierung verliert und zuletzt nur noch Sicherheit und Geborgenheit braucht. Er ist das einzige totale Opfer in der Geschichte, und sein versehentlicher Tod ist so etwas wie die grausame Konsequenz daraus.

   Der Film ist von meisterhafter Dichte und Spannung, dabei eigentlich sehr ruhig, fast bedächtig konstruiert und mit genug Zeit für all die schmerzhaften und manchmal auch zärtlichen und freundschaftlichen menschlichen Begegnungen. Die Kluft zwischen den Generation ist dabei offenkundig: Während Umay sich scheinbar problemlos zwischen Ost und West bewegt und in Berlin ganz selbstverständlich zuhause zu sein scheint, leben die Eltern und zumindest auch Mehmet noch zu einem großen Teil in ihrer alten Welt, sprechen wenig oder gar kein Deutsch und sind ganz in ihren Traditionen gefangen. Umays jüngere Geschwister wiederum sind eher westlich orientiert, doch zeigen auch sie nicht unbegrenzt Verständnis für den Alleingang ihrer Schwester, vielleicht weil sie Angst davor haben, dass sich die Familie in dieser westlichen Welt in Luft auflöst und alles, was früher prägend und wichtig war, an Bedeutung und Sinn verliert. Der enormen Komplexität der Situation trägt das sorgfältige, dichte Drehbuch Rechnung, in dem die meisten Charaktere sehr reich und plastisch ausgeformt sind, nur beispielsweise Umays neuer Freund Stipe bleibt ziemlich blass und hätte vielleicht ganz entbehrt werden können. Hervorzuheben ist natürlich auch die grandiose schauspielerische Leistung aller Beteiligter, vor allem Sibel Kekilli spielt faszinierend eindringlich, eine widersprüchliche Protagonistin, eine starke Persönlichkeit.

 

   Es gibt schon den einen oder anderen guten deutsch-türkischen Film über die Kulturkluft, aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so bewegt und beeindruckt gewesen zu sein wie diesmal. (24.3.)